Sascha Schierz: Wri(o)te. Graffiti, Cultural Criminology und Transgression in der Kontrollgesellschaft Der erschriebene Aufstand

Sachliteratur

Graffiti, Skateboarding, D(o)I(t)Y(ourself), Schwarzer Block und das widerständige Potential urbaner Subkulturen – eine poststrukturalistisch informierte Betrachtung des Wechselspiels von Kontrolle und Transgression im städtischen Raum.

Graffiti «161» (Antifaschistsche Aktion) in Berlin-Friedrichshain, Oktober 2020.
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Graffiti «161» (Antifaschistsche Aktion) in Berlin-Friedrichshain, Oktober 2020. Foto: Singlespeedfahrer (PD)

14. Januar 2021
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Sascha Schierz legt mit „Wri(o)te. Graffiti, Cultural Criminology und Transgression in der Kontrollgesellschaft“ seine Dissertation aus dem Fachbereich der Bildungs- und Sozialwissenschaften vor. Der nicht ganz eingängige Titel liefert gleichwohl einen guten Überblick über die Breite der Themen, die zur Sprache kommen: Es geht um Graffiti-Writing und sein Ineinandergreifen mit dem Aufstand („riot“) und damit um eine Verortung von Graffiti im sozialwissenschaftlichen Rahmen zwischen Kontrollgesellschaft und der Möglichkeit der Transgression, also (Grenz-)Überschreitung.

Der Kern der Arbeit wird gebildet durch eine Fallanalyse des Graffiti-Writing. Schierz liefert im Kapitel „Vergnügen: Writing als Gefühlswelt, Performanz und Kultur“ einen gelungenen historischen Überblick über Entstehungsbedingen und Entwicklungen des Writing und klärt zentrale Begrifflichkeiten und Motivationslagen, die einen umfassenden Überblick über das Phänomen geben. Dabei analysiert er eine Reihe von Filmen, die neben Spielfilmen von „Wild Style“ bis „Whole Train“ und eher neutralen Dokumentationen auch Szenefilme wie „Dirty Handz“ oder „Consequence III“ umfasst. Immer wieder wird dabei die Wechselwirkung mit der Stadt aufgegriffen, die zunächst die wesentliche Leinwand wie auch das Publikum bereitstellt, durch die die zentralen Entstehungsbedingungen des Writings erst gestellt werden.

Auf der anderen Seite: „Graffiti verändern die Wahrnehmung und das Gefühl für die Stadt. Die ganzen ‚Tags' und Bilder, man kennt sie und kriegt Veränderungen mit.“ (S. 240) Die Konstruktion der Illegalität (die Rechtslage war lange Zeit unklar, da der Straftatbestand der Sachbeschädigung eine unwiederherstellbare Oberflächenveränderung verlangte, die im Falle von Graffiti oftmals nicht gegeben ist) dient dabei der Sicherung bestehender Eigentumsverhältnisse und versucht das Privileg der Gestaltung des öffentlichen Raums einer zahlungsfähigen Kundschaft vorzubehalten. Doch gerade durch die Illegalität schreibt sich die Kritik der Verhältnisse ins Writing ein:

„Die Flächen städtischer Wände werden zu öffentlichen Räumen, die wiederum diskurs- und kritikfähig sind. Die private Gestaltungshoheit über die Wand bzw. das Privileg, den städtischen Raum in einer als legitim geltenden Weise zu formen, werden performativ kritisiert.“ (S. 331)

Vor allem an den Dokumentarfilmen zeigt Schierz auch Reaktionen seitens Medien, Politik und Polizei auf, die Möglichkeiten von Gegenmassnahmen und Kontrolle thematisieren. Inwiefern von dieser Seite ein arg reduziertes Verständnis des Phänomens an den Tag gelegt wird, wird durch die Gegenstimmen und ihre Kontextualisierung in den Filmen schnell offenbar. Später wird noch näher auf fortschreitende Entwicklungen des Stadtmanagements Bezug genommen. Während hier versucht wird, dem Ideal der weissen Wand einen Bonus an Sicherheit und Sauberkeit abzugewinnen und aus der postindustriellen Stadt einen streng geordneten Erlebnisraum für ein bürgerliches Durchgangspublikum zu schaffen, steht Writing dem als Einbruch eines kriminellen ‚Anderen' gegenüber. „Es ist die kurzfristige Realisation von Autonomie und Eigensinn in einem urbanen Alltag, der durch Kontroll- und Ordnungsimperative geprägt erlebt wird.“ (S. 474)

Doch auch kritische Perspektiven auf die Graffiti-Subkultur kommen bei Schierz nicht zu kurz. So widmet sich ein eigenes Unterkapitel der Frage „Der Krieg der Stile als reine Männersache? Gender und Writing“, um sich mit der ungleich kleineren Beteiligung nicht-männlicher Akteur_innen in der Writingszene auseinander zu setzen. Ebenso wird auf die steigende Vermarktungsfähigkeit von Graffiti eingegangen, das mittlerweile nicht nur Farb- und Zubehörherstellern ein beschauliches Auskommen ermöglicht, sondern auch Einzug in diverse Werbespots gefunden hat oder gar auf im Gentrifizierungsprozess befindliche Kieze zwischenzeitlich eher als Auf- denn als Abwertung wirken kann.

Den Hintergrund der Ausführungen stellt eine umfassende theoretische Diskussion der Frage nach den Veränderungen der Formen sozialer Kontrolle in der postindustriellen Gesellschaft. Dazu wird eine umfangreiche Darstellung gängiger wie auch weniger bekannter sozialwissenschaftlicher Ansätze geliefert, die sich mit den Phänomenen Macht und Kontrolle beschäftigen. Während souveräne, repressive Machtverständnisse sich noch an der Allmacht des absolutistischen Monarchen orientieren, spricht Schierz zunächst dem von Michel Foucault ausgearbeiteten Konzept der Disziplinarmacht das Verdienst zu, den Blick stärker auf die Mechanismen von „Überwachen und Strafen“ zu lenken.

Das tragende Modell von Macht für die Arbeit liefert schliesslich die Deleuzesche Vorstellung einer fast ohne Repressionsapparat auskommenden (jedoch deswegen nicht minder problematischen) Kontrollgesellschaft. Die Eingriffe der Kontrollgesellschaft vollziehen sich zwar für die Einzelnen fast unmerklich, dadurch jedoch erweitern sie zunächst ihren Einflussbereich und machen sich gleichzeitig weniger angreifbar; „Disziplinierung oder Normalisierung treten hinter die Kultivierung und das Management von Differenzen zurück.“ (S. 84) Die in Frage stehenden Differenzen verbleiben eng umrissen, gleichwohl bietet damit jede Überschreitung der vorgegebenen Bahnen bereits einen Ansatzpunkt für so etwas wie „Alltagsdissidenz“, quasi eine auf alltäglicher Ebene und im Kleinen operierende Widerstandsform:

„Während das aktuelle Sicherheitsdispositiv sich dadurch auszeichnet, Ströme von Menschen und Gütern durch Kontrollen zu regulieren, bzw. sein Subjekt situativ kontextualisiert zu fassen, beruhen diese subalternen Praxen auf einer Performanz und Dekontextualisierung von bestimmten Orten [...].“ (S. 97)

Eine solche Praxis stellt Schierz als Element verschiedener subkultureller und/oder kriminalisierter Bewegungen heraus, die von Skateboardfahren über öffentliche Punkertreffen, Drogenkonsument_innen bis hin zur DIY-Szene und autonomen Demonstrationen reichen. In der ausführlichen Fallanalyse wird hier auch das Writing eingeordnet, das eine performative Kritik an wohlstandsabhängiger Gestaltungshoheit leistet und auf eine Umwidmung architektonischer Oberflächen zur Leinwand und Galerie abzielt. Und nicht zuletzt: „Graffiti stellen auch eine bunte Art dar, der Gesellschaft seinen Mittelfinger zu zeigen und ihr, wenn auch nur partiell, die Gefolgschaft zu versagen.“ (S. 236)

Jorane Anders
kritisch-lesen.de

Sascha Schierz: Wri(o)te. Graffiti, Cultural Criminology und Transgression in der Kontrollgesellschaft. Vechtaer Verlag für Studium, Wissenschaft und Forschung 2009. 493 Seiten ca. 18.00 SFr., ISBN 978-3-937870-10-5

Das Buch ist derzeit vergriffen, kann aberhier kostenlos heruntergeladen werden.

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