Ruedi Epple / Eva Schär: Spuren einer anderen Sozialen Arbeit Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz 1900–2000

Sachliteratur

Vier historische Beispiele illustrieren die Entwicklungsgeschichte kritisch-politischer Sozialarbeit im 20. Jahrhundert in der Schweiz.

Die «Neue Börse» in Zürich 1930 (heute «Alte Börse»).
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Die «Neue Börse» in Zürich 1930 (heute «Alte Börse»). Foto: Unbekannt (PD)

14. Dezember 2016
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Der kritische Blick auf Soziale Arbeit zeigt, dass diese niemals nur „Hilfe“ für die Betroffenen leistet, sondern immer auch in Prozesse von Macht und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft involviert ist. Dieser analytisch-theoretischen Erkenntnis schliesst sich häufig die Frage an, welche professionell-politischen Alternativen es gibt, also wie eine Praxis „kritischer Sozialer Arbeit“ aussehen könnte. Allerdings zeigt sich in der entsprechenden Fachdiskussion ein sehr verwirrendes Spektrum unterschiedlicher Zugänge, Bezüge und Konzepte. Es bleibt oft unklar, wie eine solche „andere“ Soziale Arbeit aussehen könnte – und wie nicht.

Epple und Schär intervenieren hier mit einer historischen Rekonstruktion kritischer und politischer Sozialarbeit in der Schweiz des 20.Jahrhunderts. Die Spurensuche nach einer anderen Sozialen Arbeit in der Geschichte ist zugleich ein eleganter Versuch, in „Auseinandersetzung mit der Tradition, in der heutige Ansätze kritischer und politischer Sozialer Arbeit stehen, […] die kollektive Identität dieser Bestrebungen […] voranzubringen“ – damit eben „diese Tradition nicht der Vergessenheit anheim fällt“ (S. 14). Die Betrachtung der Vergangenheit soll so zugleich – das ist die Hoffnung der Autor_innen – in der aktuellen Debatte neue Nischen für „herrschaftskritische Impulse“ (S. 391) erschliessen.

Auf Spurensuche in der Vergangenheit

Epple und Schär durchleuchten die Sozialgeschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts auf den „Spuren einer anderen Sozialen Arbeit“ und stellen als Ergebnis ihrer Betrachtung vier Beispiele vor. Deren Gemeinsamkeit sehen sie bei aller Unterschiedlichkeit darin, dass diese Formen Sozialer Arbeit „erstens eine kritische Sicht auf die Gesellschaft“ auszeichnet und zweitens „die explizite politische Absicht, soziale Probleme erzeugende gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern“ (S. 388).

Die Untersuchung gliedert sich in vier grosse Abschnitte, die annähernd gleich aufgebaut sind. Der allgemeinen Einführung in den jeweiligen historischen Kontext („Wirtschaft“, „Politik“, „Armut und Unterstützung“) folgt die konkretisierte Darstellung und Analyse der jeweiligen „Spur“ einer anderen Sozialen Arbeit. Diese Schilderungen werden besonders anschaulich durch die Verknüpfung mit individuellen Biografien von Protagonist_innen.

Zeitlich erstrecken sich die vier Spuren relativ gleichmässig über das gesamte 20. Jahrhundert und berühren dabei unterschiedliche Felder der Sozialen Arbeit: Das erste Kapitel behandelt die bürgerlich-christlich geprägte „Settlement-Bewegung“ in den 1920er Jahren, deren Ziel es war, „Klassenschranken zu überbrücken sowie nachbarschaftliche Bildungs- und Unterstützungsarbeit zu leisten“ (S. 69). Es folgt die Geschichte der Konferenz für sozialistische Wohlfahrtspflege und die Gründung des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks in den 1930er und 1940er Jahren, für die „als Hilfswerk einer Sozialen Bewegung“ (S. 22) das Konzept „gebundener Hilfe“ für die Klasse der Arbeiter_innen im Vordergrund stand. Die dritte Spur führt an die Schule für Sozialarbeit Solothurn, die 1969 in einem eigentlich konservativ-katholischem Umfeld entstand und in der die Autor_innen Ansätze zur Ausbildung einer „solidarischen Professionalität“ (S. 183) sehen.

Die zeitgeschichtlich jüngste – und leider am schwächsten dargestellte – Form einer anderen Sozialen Arbeit sehen Epple und Schär in der Unterstützungsarbeit für die sogenannten „Sans-Papiers“ oder „papierlosen“ illegalisierten Migrant_innen, die in der Schweiz erstmals 2001 durch Kirchenbesetzungen eine öffentliche Debatte erzwungen hatte. Dem jeweiligen Kapitel schliessen sich je zwei bis drei historische Quellentexte an, die von den Autor_innen einleitend kommentiert sind. Stellvertretend geben sie einen Eindruck von der paradigmatischen Wirkung eines anderen Verständnisses Sozialer Arbeit für die jeweilige Epoche. Die Untersuchung schliesst mit einer leider viel zu kurz geratenen Gesamtbetrachtung.

Stärken der geschichtlichen Betrachtung

Durch die historische Perspektive gelingt es Epple und Schär, Möglichkeiten und Grenzen einer anderen Sozialen Arbeit zu diskutieren, jeweils vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Bedingungen. Sie können sich dabei auf empirisches Material und historische Tatsachen stützen. Dadurch vermeiden sie eine rein idealistische Konstruktion einer (ganz) anderen Sozialen Arbeit und umgehen die Gefahren eines normativ-überladenen und „geschichtslosen“ Verständnisses Sozialer Arbeit.

Sie behalten dabei auch das Spannungsverhältnis historischer Forschung im Blick, etwa, wenn sie auf die Gefahr hinweisen, bei der Betrachtung von Geschichte „der engen Sicht einer Profession und ihrer Interessen aufzusitzen“ (S. 391). Entsprechend vorsichtig gehen sie bei ihrer Analyse vor, indem sie einerseits eigene Positionierungen und theoretische Zugänge kenntlich – und damit zugleich überprüfbar – machen. Andererseits vermeiden sie unnötige Verallgemeinerungen und lassen stets Raum für alternative Deutungen, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten. Die eigenen Interpretationen – aber auch notwendige Fokussierungen und gelegentliche Ausblendungen – begründen, vergleichen und reflektieren die Autor_innen nachvollziehbar. Ihre eigene Darstellung wird durch weitere, auch internationale Forschungsergebnisse ergänzt.

Diese Genauigkeit in der Darstellung mag an manchen Stellen zulasten eines „unbeschwerten“ Lesevergnügens führen, vermittelt aber dadurch auch Leser_innen, die sich mit der Geschichte der Schweiz bisher kaum beschäftigt haben, einen sehr fundierten und verständlichen Einblick in die nationalen Entwicklungen der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse.

Offene Fragen im Kampf um eine andere Soziale Arbeit

Einfache Antworten für die Diskussion um eine andere Soziale Arbeit oder gar Blaupausen für aktuelle Praxiskonzepte ergeben sich aus der geschichtlichen Betrachtung der letzten hundert Jahre kritischer und politischer Sozialer Arbeit in der Schweiz nicht. Die Spurensuche nach einer anderen Sozialen Arbeit in der Settlement-Bewegung, in der „gebundenen Hilfe“ der Arbeiter_innenbewegung, dem Kampf um 1968 für andere Formen der Ausbildungen und „solidarischeren“ Professionalität, ebenso wie die Unterstützungsarbeit der „Sans-Papiers“ zeigen dabei einmal mehr, dass sich in der Sozialen Arbeit immer die Sozialen Fragen und Kämpfe der Zeit widerspiegeln. Auch eine „kritische Soziale Arbeit“ ist in diesem Sinne eine „Antwort“ auf historisch-konkrete Fragestellungen und Probleme und der Versuch, sich innerhalb widersprüchlicher Verhältnisse politisch-professionell zu positionieren.

„Was eine andere Soziale Arbeit konkret ist, lässt sich also nur epochenspezifisch festhalten“, schlussfolgern die Autor_innen abschliessend. Dies lässt Vergleiche und Parallelen zu Entwicklungen in anderen Zeiten und Regionen zu – wie sich auch jeweils spezifische Unterschiede analysieren lassen. Dafür liefern Epple und Schär auf knapp 400 Seiten viel konkretes Material und grundlegende Zusammenhangsanalysen, die viel Raum bieten für eigene Gedankengänge. Ob sich mit dieser Feststellung allein allerdings schon die erhofften „Nischen“ für „herrschaftskritische Impulse“ im Kampf um eine andere Soziale Arbeit erschliessen lassen, muss aber eher bezweifelt werden. Die Verknüpfung der geschichtlichen Darstellung mit den Fragen der „Jetztzeit“ bleibt in dem Buch von Epple und Schär selbst jedenfalls zu unausgefüllt.

Arne Sprengel
kritisch-lesen.de

Ruedi Epple / Eva Schär: Spuren einer anderen Sozialen Arbeit. Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz 1900–2000. Seismo Verlag, Zürich 2014. 422 Seiten, ca. 41.00 SFr. ISBN 978-3-03777-146-4

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