Peter Nowak (Hg.): Arbeitskämpfe nach dem Ende der grossen Fabriken Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht

Sachliteratur

Der Band von Herausgeber Peter Nowak versammelt Berichte und Reflexionen über Arbeitskämpfe in ungewöhnlichen Arbeitsbereichen.

Streik der Angestellten im Spital «Hôpital de l'Hôtel-Dieu» in Paris, Frankreich.
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Streik der Angestellten im Spital «Hôpital de l'Hôtel-Dieu» in Paris, Frankreich. Foto: Lionel Allorge (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. Dezember 2016
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Prekäre Arbeitsverhältnisse wie unsichere oder schlecht bezahlte Arbeitsplätze, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit sind längst keine Randphänomene mehr. Sie finden sich mittlerweile in sämtlichen Bereichen der Arbeitswelt. Durch die Auslagerung ganzer Unternehmensbereiche und die Aufweichung (oder neudeutsch „Flexibilisierung“) gesetzlicher sowie tarifvertraglicher Regelungen sind davon längst auch die sogenannten Normalarbeitsverhältnisse, das heisst sozialversicherungspflichtige Festanstellungen, betroffen. Das bekommen auch die Gewerkschaften zu spüren, die mit sinkenden Mitgliederzahlen und einer abnehmenden Kompromissbereitschaft der Unternehmensführungen konfrontiert sind.

Nicht zuletzt das lange Zeit als besonders fortschrittlich geltende Modell der Industriegewerkschaft, das sich an der Interessenvertretung und sozialpartnerschaftlichen Mitwirkung der Stammbelegschaften in grossen Unternehmen orientiert, zeigt grosse Schwierigkeiten, auf die zunehmend fragmentierten Arbeitsverhältnisse zu reagieren. Das äussert sich auch in der wachsenden Bedeutung kleinerer kämpferischer Gewerkschaften in einigen Bereichen der heutigen Arbeitswelt. Zugleich hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte über neue Organisationsansätze und Instrumente des Arbeitskampfes entwickelt.

Sie wird vor allem international geführt, in gewerkschaftsnahen Publikationen wie der europaweit erscheinenden „Transfer“ oder auf transnationalen Konferenzen von Streikaktivist*innen und Basisgewerkschafter*innen, wie im Oktober 2015 im polnischen Poznan. Einige Arbeitssoziolog*innen vergleichen die Situation dabei sogar mit derjenigen im 19. Jahrhundert, als Gewerkschaften wesentlich netzwerkartiger organisiert waren und ihre Funktion nicht so sehr in der Interessenvertretung innerhalb der Unternehmen, sondern in der Organisation von Solidarität auf regionaler Ebene bestand.

Streiks ausserhalb der grossen Fabrik

Diese Situation in der heutigen Arbeitswelt bildet den aktuellen Hintergrund für das kleine Sammelbändchen des Berliner Journalisten Peter Nowak zu „Arbeitskämpfen nach dem Ende der grossen Fabrik“, wie es im Untertitel heisst. Es kann als Beitrag zu den laufenden Debatten aus aktivistischer Sicht betrachtet werden. Dabei versammelt Nowak Beispiele von Arbeitskämpfen aus sehr unterschiedlichen und teilweise auch sehr ungewöhnlichen Bereichen. So geht es um Arbeitskämpfe von Sexarbeiterinnen und um Arbeitskämpfe in einem Berliner Spätkauf, im Theater und im Gefängnis. Die Autoren und Autorinnen waren und sind zumeist selbst Protagonist*innen dieser Kämpfe oder in Unterstützungsaktionen aktiv. Deutlich wird dabei die grosse Rolle, die ein solidarisches Umfeld und die Auseinandersetzung in der Gesellschaft einnehmen, um eine oftmals mangelhafte Produktionsmacht der Beschäftigten auszugleichen. Daher geht es in dem Buch auch um die Verbindung von Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen.

Es finden sich auch historische Ausflüge, so zu einem Solidaritätskomitee von Lesben und Schwulen für den britischen Bergarbeiterstreik 1984 und 1985, für das sich die Kumpels mit ihrer Beteiligung auf der Gay-Pride-Parade in London revanchierten. Zum grössten Teil werden in dem Buch jedoch noch sehr frische und teilweise noch laufende Auseinandersetzungen behandelt.

Der Blick über den Tellerrand hinaus...

Zu loben ist, dass die Beiträge sich nicht auf Deutschland beschränken, sondern sich, durch Beispiele aus Frankreich und Italien, in einen europäischen Kontext einordnen lassen. So geht Willi Hajek im Rahmen eines Beitrages über ein europäisches Netzwerk von Basis- und alternativen Gewerkschaften auf die französischen Basisgewerkschaften SUD-Solidaires und ihr Selbstverständnis eines „syndicalisme différent“(S. 10) ein. Damit ist gemeint, dass sich die französischen Basisgewerkschafter*innen nicht nur auf die Probleme am Arbeitsplatz konzentrieren, sondern auch das Verhältnis zu den Konsument*innen reflektieren und diese in die eigene Strategie mit einbeziehen.

„Der Typ Syndikalismus, den die Sud-Gewerkschaften repräsentieren, betrachtet umgekehrt die Gesellschaft als praktischen Zusammenhang der Menschen, in dem die Lohnabhängigen nicht nur Objekte, sondern zugleich tätige Subjekte, gesellschaftliche Produzent_innen sind und in dieser Eigenschaft das Kapitalverhältnis und die es schützende Politik als Hindernis, als ‚Ballast' erleben“ (S. 10f.).

In diesem Zusammenhang wird auf eine Reihe von Arbeitskämpfen eingegangen, in denen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen direkt an ihr gesellschaftliches Umfeld wandten. So etwa Arbeitsniederlegungen im Pariser Hotel- und Friseurgewerbe, die mit grosser öffentlicher Unterstützung geführt wurden, oder bei einem Energieversorger, bei dem die Monteure für kostenlose Stromversorgung für arme Haushalte sorgten. Besonders interessant ist das Beispiel der Intermittents du spectacle, der französischen Kulturschaffenden, denen die Regierung Hollande 2014 mit Kürzungen der Ausgleichzahlungen im Falle von Arbeitsunterbrechung drohte. Eine Massnahme, gegen die sich die Intermittents mit öffentlichen Mobilisierungen und Diskussionen zur Wehr setzten. Die Schilderung dieses Kampfes kann dabei als Prolog zu den jüngsten Auseinandersetzungen um die Reform des Arbeitsgesetzes El Khomri und die Platzbesetzungsbewegung Nuit Debout gelesen werden: „[D]ie Intermittants sind praktisch seit 2003 ein aktiver Teil der rebellischen Lohnarbeit, der auch gerade durch seine Aktionsformen, durch seine Kultur der Versammlungen, durch sein öffentliches Auftreten ein wirklich sozialrevolutionäres Milieu geschaffen hat“ (S. 22f.).

Zwei Mitglieder von labournet.tv behandeln die Auseinandersetzungen in der italienischen Logistikbranche. Das Besondere an diesem Arbeitskampf ist, dass hier seit 2008 vor allem migrantische Arbeitskräfte, in einer allgemeinen ökonomischen Krisensituation und ohne Unterstützung der grossen nationalen Gewerkschaften, erfolgreich für Lohnerhöhungen und die Anerkennung der nationalen Branchentarifverträge in ihren Unternehmen kämpfen. Unterstützung erhalten sie dabei von kleinen Basisgewerkschaften, wie der S.I. COBAS, in der ältere Militante aus den Fabrikkämpfen der 1960er und 1970er Jahre aktiv sind, und durch die ausserparlamentarische Linke aus dem Umfeld der centri sociali, der italienischen Hausbesetzer*innenbewegung. Letztere sorgten vor allem für die massenhafte Beteiligung bei Streikposten und Strassenblockaden, die erfolgreich die Auslieferung von Waren aus den Lagerhäusern blockierten und die Unternehmen an einem empfindlichen Punkt trafen.

... und wieder nach Deutschland

Es bleibt dem Leser und der Leserin selbst überlassen, die vielen Parallelen und Verbindungen zu den Beispielen aus Deutschland herauszusuchen. Sie sind jedoch vorhanden. So bei den Auseinandersetzungen an der Berliner Universitätsklinik Charité um eine bessere Personalausstattung, wo die Beschäftigten unter dem Slogan „Mehr von uns ist besser für alle“ (S. 82) auch die Qualität der Gesundheitsversorgung für die Patient*innen thematisieren. Aber auch bei den Auseinandersetzungen im Einzelhandel, bei H&M und bei Amazon, die von Solidaritätskreisen unterstützt werden, in denen sich vor allem die ausserparlamentarische Linke einbringt. So haben etwa Aktivist*innen aus dem Blockupy-Bündnis, welches durch Grossdemonstrationen gegen die EZB in Frankfurt am Main 2012 bis 2015 Aufmerksamkeit erregt hatte, die Streikenden bei H&M und Amazon 2013 mit Aktionen unterstützt. Sie organisierten etwa Kundgebungen vor Filialen und Blockaden vor Warenlagern, zu denen die Beschäftigten aufgrund des Repressionsrisikos am Arbeitsplatz nicht in der Lage waren.

Ein Unterschied zu Frankreich und Italien ist dabei, dass in Deutschland diese Arbeitskämpfe mit ver.di von einer grossen Branchengewerkschaft geführt werden, wobei auch Reibereien nicht ausbleiben. Seit 2014 wird auf überregionalen Konferenzen auch über das Selbstverständnis der Solidaritätsarbeit debattiert. Sehen sich die Soli-Aktivist*innen als ehrenamtliche Helfer*innen bei den Organisierungskampagnen der Gewerkschaft, oder soll die Selbsttätigkeit der Beschäftigten im Vordergrund stehen? Diese Fragen werden auch von der Gruppe Antifa Kritik und Klassenkampf aus Frankfurt am Main in einem eher theoretischen Beitrag aufgeworfen. Die ursprünglich universitätspolitische Gruppe begründet ihr Engagement in oben genannten Soli-Kreisen mit der Absicht, eine Verbindung von antikapitalistischer Perspektive und konkreten Einzelkämpfen herzustellen. Wenn auch aus einer anderen Position heraus und in einem akademischen Tonfall, zeigt ihre Argumentation für die Orientierung am Klassenkampf auch Ähnlichkeiten zum oben erwähnten Selbstverständnis der französischen Basisgewerkschafter*innen:

„Wird in kollektiven Erfahrungs- und Reflexionsprozessen deutlich, dass die eigenen Bedürfnisse hier und heute nur befriedigt werden, sofern sie sich der Wertvergesellschaftung einpassen, vermitteln sich Bedürfnisse mit der kritischen Einsicht, dass eine gesellschaftliche Produktion, die auf die Bedürfnisbefriedigung und -entfaltung der Gesellschaftsmitglieder gerichtet ist, nur jenseits der kapitalistischen Klassengesellschaft zu haben ist“ (S. 105).

Der Text endet mit einem Vorschlag zum Aufbau von Strukturen zur Herstellung von Solidarität zwischen Lohnabhängigen aus unterschiedlichen Branchen und gesellschaftlichen Bereichen. Darunter werden „Streikende, Betriebsgruppen, Arbeitsloseninitiativen, Repro-Arbeiter_innen oder Soli-Aktivist_innen“ (S. 107) verstanden, die sich „rund um die Orte, an denen Herrschaft und Ausbeutung sich alltäglich reproduzieren“ (S. 108) organisieren. Das lässt wiederum an ähnliche Experimente der jüngsten Zeit in Italien und Griechenland denken, wo sich lokale Organisationsansätze prekär Beschäftigter und Studierender gebildet haben.

Das Sammelbändchen ist sicher keine Fachliteratur. Eine ausführlichere Einleitung, die die vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Beiträge miteinander in Beziehung setzt und versucht, sie mit gemeinsamen Thesen über die neuen Arbeitskämpfe zu unterfüttern, wird nicht geboten. Die Synthese, wie sie der Autor dieser Rezension aus seiner eigenen Sicht ansatzweise versucht hat, wird also dem Leser überlassen. Für diejenigen aber, die sich über neuere und teils ungewöhnliche Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz aus erster Hand informieren wollen, ebenso wie für solche, die in ähnliche Kämpfe verwickelt sind, ist es dennoch eine anregende Lektüre, die zudem sehr handlich und auch für Menschen mit wenig Zeit zubereitet worden ist.

Dietmar Lange
kritisch-lesen.de

Peter Nowak (Hg.): Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe nach dem Ende der grossen Fabriken. Edition Assemblage, Münster, 2015. 111 Seiten, ca. 11.00 SFr. ISBN 978-3-942885-78-2

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