Der kritische Geist des Marxismus Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer

Sachliteratur

Jacques Rancière rückt in einer neuen Arbeit seine Bildtheorie in ein Verhältnis zum Zuschauer, setzt sich mit anderen linken und weniger originellen Theorien und Kunstproduktionen seiner Generation auseinander und untersucht die Paradoxien politischer Kunst bis heute.

Jacques Rancière im Kulturzentrum von Rosario, Argentinien, Oktober, 2012.
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Jacques Rancière im Kulturzentrum von Rosario, Argentinien, Oktober, 2012. Foto: Patricio Irisarri (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

1. Februar 2016
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Rancière beginnt mit der Sichtung der verschiedenen kritischen Theatertheorien, welche er aus Platzgründen zu einer schlichten Formel reduziert und diese Paradox des Zuschauers nennt - Platons zur Passivität verurteilter Zuschauer, das epische Theater Brechts und das Theater der Grausamkeit Artrauds bis hin zur Gesellschaft des Spektakels von Guy Debords Situationisten. Die zunehmende Diversifizierung der Gegenwartskunst sowie die Hybridisierung der Kunstmittel und ihrer Formen seien oft nicht mehr als digitale Prothesen, welche ihre Originalität keineswegs immer erhöhen. Dies aber zu wissen kann uns helfen, etwas an der Welt zu verändern, in der wir leben.

Die Begriffe und Verfahren der kritischen Kritik seien keineswegs veraltet, der Autor interpretiert eine Fotographie der bildenden Künstlerin Josephine Meckseper von 2005, welches eine Szene während einer Anti-Kriegsdemo in den USA einfängt, neben der Menschenmenge quillt ein Mülleimer schier über. Dieser überbordende Abfall funktioniere hier als Mittel der Verfremdung und könnte ohne Schwierigkeiten mit den sehr engagierten Fotomontagen der Amerikanerin Marta Rosler (aus der Bringing the War Home-Reihe von 1967-1972) verglichen werden, welche den Vietnamkrieg anklagen.

Der kritische Geist des Marxismus sei nicht verschwunden, er habe nur den Ort gewechselt:

„Er ist nun in der Mitte des Systems, als wäre er dessen Bauchrednerstimme. Er ist das infame Gespenst oder der infame Vater, der die gemeinsame Infamie der Kinder von Marx und Coca-Cola bezeugt. Gramsci hatte die sowjetische Revolution damals als Revolution gegen Das Kapital bezeichnet, gegen das Buch von Marx, das die Bibel des bürgerlichen Wissenschaftsglaubens geworden war.“ (S. 44)

Hier setzt sich Rancière mit der Spektakelpolitik Debords ebenso auseinander wie mit ihren aktuelleren Formen, z.B. des italienischen Philosophen Paolo Virno, aber auch die neuere Melancholie von links wird überzeugend analysiert. Gibt es also einen Überschuss, zu viele Bilder, wie Barthes und Baudrillard meinten? Bereits bei dem französischen Schriftsteller Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Verweise auf Kunstwerke, Theaterstücke und selbst Operetten so vielfältig, dass sie ganze Bücher anderer Autoren füllen.

Und selbst die Auswahl des Marmors in Carrara durch Michelangelo wird dort mit der Wahl eines saftigen Rinderfilet oder einem vortrefflichen Schinken verglichen, was Vegetarier gar nicht gefallen dürfte. Nun, die können gerne auf die köstlichen Petits pains d'anis (kleine Anisplätzchen) ausweichen. Die Maschine der Kritik könne so ewig am laufen gehalten werden, ohne an den Verhältnissen etwas zu verändern, in dem sie ewig Perspektive und Standort wechsle. Egal ob man nun eine moderne Installation in eine der als schwierig bezeichneten Pariser Vorstädte verlagere wie es einige Künstler gemacht haben (der Autor nennt die Künstlergruppe Campement urbain, welche von Sylvie Blocher in einem Film dokumentiert wurde oder ein Werk von Charles Ray, wo ein Rummelpatzkarusell eine wichtige Rolle einnimmt:

„Die Politik der Kunst kann ihre Paradoxa also in der Form eines Hinausgehens ins Aussen oder eine Intervention in die ‚wirkliche Welt' nicht lösen. Es gibt keine wirkliche Welt, die ausserhalb der Kunst wäre.“ (S. 91)

Gibt es unerträgliche Bilder, etwa die des Benetton-Fotographen Oliveiro Toscani oder wie sie in Claude Lanzmanns Film Shoa (1985) vorkommen? Gerade in diesem Kapitel beweist der Autor durch zahlreiche eindrucksvolle Beispiele, dass er die zeitgenössische Kunst sehr gut kennt und sie interpretieren kann (Sophie Ristelhueber, Alfredo Jaar, Rineke Dijkstra u.a.). Es gibt kein zuviel an Bildern von Massakern, Deportationen und anderen Schrecken durch die Medien, wie dies Kritiker oft behaupten, diese lehren uns vielmehr, dass nicht jeder in der Lage sei zu sehen und zu sprechen.

Jacques Rancières Buch zeigt uns Dinge zu sehen, die vorher nicht so deutlich waren und ist gleichzeitig eine äusserst aktuelle, sowie sehr komprimierte Einführung in seine zahlreichen ästhetischen Schriften.

Adi Quarti
kritisch-lesen.de

Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Passagen Verlag, Wien 2009. 160 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN: 978-3-85165-908-5

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