Henning Böke: Maoismus China und die Linke - Bilanz und Perspektive

Sachliteratur

5. April 2017

Henning Böke umreisst ohne Verklärung und ohne Nachsicht die Jahre des Maoismus in China und in der übrigen Welt. Aus allen Wendungen und Drehungen arbeitet er das Unverlierbare heraus.

Mao Zedong, September, 1966.
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Mao Zedong, September, 1966. Foto: PD

5. April 2017
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Mao Zedong - eine Sonne, die vielen in Europa und speziell in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren aufgegangen war - und spätestens nach den Schüssen der Roten Armee auf die Demonstranten auf dem Tienamen-Platz im Sommer 1989 wieder unterging. Seither durchwandert der Grosse Vorsitzende alle möglichen Biographien westlicher Politikerinnen und Politiker - als Gespenst früher Jugend. Überwundenes Gespenst. Gegenstand nachsichtiger Erinnerung. Weiterer Gedanken nicht mehr wert.

Flankiert wird dieses zum Habitus gehörende Vergessen von einigen wütenden Büchern, die den angeblich immer noch herrschenden Mythos Mao zerstören sollen. Da erfährt man allerlei über Maos ungeputzte Zähne, gar nichts hingegen von den Gedanken, Absichten und Handlungen dieses Mannes. Das solche Kanonen gegen ihn immer noch aufgefahren werden, zeigt, dass der chinesische Kommunist mit anderen Gespenstern eines gemeinsam hat: Man weiss nicht, wo und wann sie wiederkommen und bereitet den Exorzismus vor, den angsterzeugten Abwehrzauber.

Henning Böke hat mit solchen Praktiken nichts zu tun. Er unternimmt in seinem im Sommer 2007 erschienen Buch den Versuch einer Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs, in dem die Theorien Maos innerhalb der marxistischen Tradition funktionieren. Er fragt weiter nach den politischen Umständen, die die von aussen oft verblüffend wirkenden Wechsel und Drehungen der Politik der Maoisten in China erklären. Darüber hinaus nach den Gründen der raschen Verleugnung des Parteiführers nach seinem Tod 1976 - bei gleichzeitiger Monumentalisierung seines Andenkens. Und was ist trotzdem übrig geblieben - auch bei den linken Bewegungen im Westen, fragt Boeke schliesslich.

Klar ist, dass Mao Zedong sich bei seinen revolutionären Bemühungen 1949 vor dem selben Problem fand wie dreissig Jahre vorher Lenin: wie kann die proletarische Revolution durchgeführt werden in einem Land, in welchem landbesitzende und landlose Bauern die Mehrheit bilden, die Proletarier aber, auf die Marx setzte, bei wohlwollendster Zählung zehn Prozent ausmachen?

In der ersten Zeit der Revolution in den zwanziger Jahren stand die ganze chinesische KP, deren Vorsitzender Mao damals noch nicht war, unter der Fuchtel Stalins und der von diesem dominierten Komintern. Diese begünstigte die bürgerlich-national-evolutionäre Bewegung der Kuomintang; und versuchte, die Kommunisten durch Dick und Dünn in eine Koalition zu zwingen, selbst noch, als sich deutlich zeigte, dass in den Städten die Partei Tschiang Kai Scheks die Kommunisten vernichtend angriff, wo es möglich war. Hätte sich diese Linie durchgesetzt, die Revolution hätte leicht mit der Machtergreifung eines bürgerlichen Diktators enden können wie im spanischen Bürgerkrieg, wo Stalin eine ganz ähnliche Politik diktierte.

Der andere Weg Chinas begann damit, dass Mao Zedong in Bauerngebiete auswich, und dort eigene befreite Gebiete gestützt weitgehend auf Bauern ausrief. Der legendäre lange Marsch folgt noch einmal der selben Taktik, mit ungeheuren Opfern. In dieser Zeit entstanden die ersten grundlegenden Schriften Über die Praxis und Über den Widerspruch. Ein besonderer Vorzug Bökes besteht darin, dass er diese nicht einfach als zeitlose Klassiker behandelt, sondern in die taktischen und strategischen Bewegungen der jeweiligen Politik einbezieht.

Über die Praxis sollte später in der deutschen marxistischen Tradition die grösste Wirkung bekommen. Lukacs hatte in Geschichte und Klassenbewusstsein mühsam, hochtheoretisch und wahr entwickelt, dass ab Kant in der deutschen Philosophie Erkennen und Handeln einander hilflos und unversöhnt gegenüberstanden. Was Kant in der Kritik der Reinen Vernunft als Prinzip herausgearbeitet hatte, nahm er in der Kritik der praktischen Vernunft zurück. Maos Satz in all seiner Schlichtheit ”Willst Du den Geschmack einer Birne kennenlernen, musst Du sie verändern, das heisst, in deinem Mund zerkauen” (S. 32), schien das Problem aufs einfachste zu lösen. So unmittelbar, so klar. Es klang nach Johann Peter Hebel und seinen bäuerlichen Merke-Sätzen und überholte doch ein Jahrhundert bürgerlichen Grübelns. Freilich kamen sofort einige Kritiker geschlichen und forderten auf, doch mal in den “Mehrwert” zu beissen oder in die “Kapital-Akkumulation” . Da hiess es gleich wieder die Aussage weiterentwickeln.

Henning Böke weist der Schrift Über den Widerspruch noch grössere Bedeutung zu. Mao erkennt nicht die Lehre von den ein für allemal dominierenden kämpfenden Gegensätzen zwischen “Produktionsverhältnissen und Produktivkräften” an - auch nicht die von “Bourgeoisie” und “Proletariat”. Gerade damit gewinnt er Freiheit zur Untersuchung der eigentümlichen Beziehungen zwischen Schichten und Klassen innerhalb der damaligen Bauerngesellschaft unter dem Druck des japanischen Imperialismus und einer von diesem abhängigen sogenannten “Kompradoren-Bourgeoisie” (Schmarotzende Anhängsel der Interessen der Besatzer).

Wichtig bei Mao für die weitere sozialistische Bewegung: Strenges Weitergehen bis hin zu solchen Widersprüchen, die nicht unmittelbar aus der Produktion entspringen. Schon dass die Arbeit nach dem Ende des Fordismus die Fabrikhallen weitgehend verlassen hat (und das begann sich ab 1973 abzuzeichnen - und galt in China schon vorher), zeigt, dass andere Gegensätze zeitweise dominieren und sogar die Gestalt eines antagonistischen Widerspruchs annehmen können, das heisst eines innerhalb des gegebenen Systems unversöhnlichen und nur durch dessen Sprengung zu lösenden.

Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwidersprüchen hat im Westen viele protestieren lassen. So war in ML-Gruppen der BRD zeitweise davon die Rede, dass der Geschlechtergegensatz nur ein Nebenwiderspruch sei, zum schärfsten Missvergnügen der Frauenbewegung. Dass nach Mao die Widersprüche die Rolle tauschen können, der ehemalige Neben-Widerspruch zum Hauptwiderspruch werden, wurde dabei gern übersehen. Auch dass in China die KP sich stark für die Befreiung und Einbeziehung der Frauen gemacht hatte, von Anfang an, wurde kaum zur Kenntnis genommen.

Mittels seiner Lehre von den wechselnden Widersprüchen gelingt es Mao, einer von aussen teilweise sprunghaft wirkenden Politik trotzdem das stete Bewusstsein inneren Zusammenhalts zu verschaffen. Über alle Wandlungen hinweg. Böke zeigt solche Sprünge und Wechsel in der Politik des Grossen Sprungs selbst, in der Kampagne Lasst hundert Blumen blühen, und besonders auffällig in der heute oft als Verbrechen hingestellten Grossen Kulturrevolution.

Es würde zu weit führen, die ganze chinesische Revolutionsgeschichte nachzuerzählen, die Böke in seinem schmalen Buch noch einmal durchsichtig macht, selbst für solche, die sie seinerzeit in gepeinigtster Aufmerksamkeit verfolgten. Böke zeigt, dass insgesamt und immer neu für Mao und die Gruppe um ihn die Sorge im Vordergrund stand, auf dem sowjetrussischen Weg die endgültige Befreiung der Menschen zu verfehlen. Und der Wille, einen solchen Torkelpfad den Abhang hinab nach Kräften zu vermeiden.

Der für heutige Leser fast scholastisch klingende Streit, was zuerst da sein müsse und deshalb vordringlich zu fördern sei - andere Produktionsverhältnisse oder erweiterte Produktivkräfte - wurde von den “Maoisten” nicht als einer um Huhn oder Ei abgetan. Eindeutig wurde geantwortet: Die Produktionsverhältnisse stehen an erster Stelle, und damit die Massen ergreifende, von ihnen weitergetragene Politik. Der “Tonnenideologie” (der Ausdruck kam wohl damals auf) und dem “Gulaschkommunismus” des Ostblocks erteilte Mao Zedong noch in seinem letzten veröffentlichten Gedicht eine erbitterte Absage.

Damit musste das Bewusstsein der Massen - antiquierter dennoch wahrer Ausdruck - in den Vordergrund treten. Das von aussen gesehen Verblüffende: es kam zu Kampagnen, in denen millionenweise etwa “Bürgerkrieg in Frankreich” gelesen wurde, um sich mit dem Konzept der Kommune 1871 vertraut zu machen. Alle Prediger der langsamen, aber friedlichen Umwandlung der Welt durch Aufklärung im Sinne eines Habermas im Westen haben genau das nie erreicht - massenhafte Bewegungen zum Lernen, zum Anwenden, zum Selberdenken. Praxisbezogene Theorie. Gerade das - und dass es das gab, ist unbestreitbar - traf uns vergrämte Schulmeisterinnen und Schulmeister ins Herz, uns mit unseren Ermunterungen zur Selbsttätigkeit, die unter den gegebenen Verhältnissen immer neu an felsigen Ohren strandeten. Der Lehrer sagte: Denk selber- das Pult, das Klassenzimmer, das Schulgebäude, die zu erwartende Behandlung der Sache in der Klassenarbeit, das Abitur. Alle schrieen jedes Mal im Chor ihr: Nein!

Gewiss haben vor allem die “Vier” (Viererbande mit dem Ausspuckwort, auch wenn der Ausdruck vom Vorsitzenden selbst stammen sollte) in der Richtung des Schulmeisterlichen übertrieben: etwa im Wettern gegen Beethoven. Nicht so im Angriff gegen Kung Futse (Konfuzius), den Ideologen der grossen Ordnung und der klaglosen Einfügung in diese. Böke zeigt am Anfang, wie konfuzianische Unterwerfung unter Autorität die befreiten Bauern so in den Krallen hielt, dass sie - als von der Revolutionsregierung die Pachtzinsen gesenkt wurden -, heimlich den Grundherren den ihnen ja “zu Recht” zustehenden Restanteil zahlten.

Schlimmer noch: in der Haltung des Konfuzianismus verwandelten sich auch die Lehren von Marx und Mao sofort wieder zu ewigen Lehrsätzen. Zum Auswendiglernen und Nachbeten. Also Metaphysik ohne Kritik. Ungefähr das Schlimmste, was sich westliche Schulangestellte ausdenken konnten, vor allem nach Berührung mit Schulaufsehern aus der DDR: ein Oberschulamt mit hergebrachter Unterdrückungsabsicht, aber kraft flüchtiger Berührung marxistischer Lehren mit links anerkannten niederschmetterndsten Argumenten.

Die furchtbaren Kämpfe in der Kulturrevolution, mit all den öffentlichen Erniedrigungen, die keiner von uns hätte mitmachen wollen, hatten doch nie zu solchen Prozessen wie in der Stalinzeit geführt. Wo etwa ein Bucharin nicht wegen seiner ehemaligen Politik der Bevorzugung der Leichtindustrie angegriffen, sondern wegen geheimnisvoller und unmöglicher Verschwörung mit Trotzki verurteilt wurde. Zur bessern Fasslichkeit für das zu erziehende Publikum der Sowjet-Bürokratie. Bis zum Sturz der “Vier” ist es meiner Erinnerung nach nie soweit gekommen, dass das Proletariat und die Bauern angelogen wurden, um dadurch zu ihrer Diktatur fähig zu werden.

Kaum war Mao tot, wurde sofort zu diesem Mittel gegriffen, vor allem mit offenen Erfindungen gegen die Frau Maos und alle Protagonistin der Kulturrevolution. Wie: seine Frau hätte den todkranken Mao zu oft im Bett herumgedreht. Und, um dem bäuerlichen Puritanismus entgegenzukommen: sie hätte unsittliche Verhältnisse gehabt und geschlitzte Kleider getragen. Dass sie wirklich innerlich zerrissen war, und sich an Garbo-Filmen ersättigte, für die nach ihr die “Massen” noch nicht reif waren, ist kein Verbrechen, sondern individuelle “Neurose”, wie Böke es nennt. Auf keinen Fall ein Argument gegen eine ganze politische Linie.

Böke verwendet für das, was nach der Rückkehr Teng Hsiao Pings geschah, nicht den Ausdruck Konterrevolution. Mit berechtigten Gründen: Es konnte nicht alles zurückgenommen werden, was die Revolution gebracht hatte. Auch verbietet sich Böke den Begriff des Verrats. Der wiederaufgestandene Machthaber Deng Hsiai Ping hatte nie etwas anderes versprochen, als was er dann tat, also auch keine Versprechen verraten und gebrochen. Allerdings, die Vorgänge am Tienamen-Platz 1989, als die Rote Armee gegen Demonstranten vorging, zeigen deutlich: Die Rolle der Roten Armee muss sich unter dem neuen Regenten ums Ganz geändert haben. Bis dahin stand sie im unerschütterten Ruf, Unterstützerin der Massen zu sein.

Es soll vorher mehrere vergebliche Versuche gegeben zu haben, die Armee einzusetzen! Wieviel Lügen wurden aufgewandt, um am Ende doch ein solches Gemetzel herbeizuführen? (Böke betont, dass es sich 1989 nicht um eine reine Studentenbewegung handelte. Es waren sicher viele Arbeiter beteiligt. Entscheidend auch nicht, dass die verschwommenen Ziele der Gruppe um die Freiheitsstatue Amerikas vermutlich eingeflüstert worden waren von den späteren Initiatoren der samtenen, rosafarbigen, safranigen oder orangenen Revolution. Mao hätte vermutlich geurteilt, dass man die Widersprüche im Volk nicht hätte so weit sich entwickeln lassen dürfen, dass Teng Hsiao Pings und seines gleichen den Anschein eines Kampfes “zwischen uns und dem Feind” am Ende herstellen konnten.)

Äusserlich gesehen - nach dem Triumphzug des “Machthabers auf dem kapitalistischen Weg" - wirkt das Fazit niederschmetternd: Es gibt anscheinend keinen anderen Ausgang als den hin zum Kapitalismus in all seinen brutalen Erscheinungsformen. Alles Aufbäumen dagegen führt nur zu schmerzhaften Umwegen, nicht auf anderes Gelände. Böke weist darauf hin, dass die Kapitalisten, wenn sie unter sich sind, genau das wiederholen: Der Weg hin zum Kapitalismus, wie ihn Max Weber beschrieben hat, ist ohne Alternative. Ob die Kapitalisten, die das so hinstellen, das Totalitäre dieses Wegs erkennen oder nicht - es hat tatsächlich bis jetzt auf lange Sicht nur den Triumph der Unterdrücker gegeben, den der Unterdrückten immer nur für kurze Zeit. In China immerhin von 1949 bis 1976.

Ist das das letzte Wort? Dann wäre es das auch für solche, für uns, die dem Vorsitzenden einmal auf seinem Weg hatten folgen wollen! Alles nur Irrtum, ja Irrsinn, vergeudete Zeit und Anlass zu fruchtloser Reue - nein: Trauerarbeit, wie ehemalige KBWler, etwa Altmeyer, das zu nennen belieben? Solchen Anhängerinnen und Anhängern in der BRD widmet Böke nur einige Seiten. Mehr Begeisterung entwickelt er für die Ml-Bewegung in Frankreich - in ihren verschiedenen Ausprägungen.

Geblieben sind immerhin einige Erkenntnisse, für uns die Geschlagenen und für ein nächstes Mal. Böke bezieht sich dabei vor allem auf die Arbeiten von Althusser in dessen letzter Schaffensperiode. Althusser greift genau die Lehre Maos von den wechselnden Widersprüchen auf, die ihre Stelle wechseln können. Damit verwirft Althusser vor allem das faule und lähmende Bewusstsein der zweiten und der dritten Internationale: Wissenschaftliche Begründung des Marxismus bedeute, man habe den Sieg in der Tasche. Marx habe den Ausgang der Geschichte aufgrund des sich zuspitzenden Hauptwiderspruchs zwischen Bourgeoisie und Proletariat vorhergesagt. Ob schnell, ob langsam: wir wissen, was kommt. Und brauchen deshalb auch gar keine grossen Anstrengungen dafür, dass es geschieht.

Absichtlich unterschlägt Althusser das Element des Schein-Zukunft-Wissens, das sich selbst bei Mao noch findet. Er arbeitet bei ihm im Gegensatz dazu heraus das Element des bewussten Wollens, des - auch subjektiven - Aufbäumens gegen Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein verächtliches Wesen ist. Revolution ist ab jetzt nur als Arbeit von Holzfällern vorstellbar, im Unterholz, ohne Wegekarte.

Von da aus weiterschreitend müsste nach den Erfahrungen mit dem Niedergang der Sowjetunion und den neuerlichen in China mit dem Absinken zu kapitalistischer Pressung und finanziellen individuellen Anreizen die Erkenntnis hinter die Ohren geschrieben werden “auf ewig”, dass die bloss quantitative Steigerung und Intensivierung der Produktion von allein keine Sprengwirkung unter den Produzenten erreicht. Ob nach Planziffer berechnet oder als Profitkoeffizient: Gerade die Ausrichtung dorthin fördert auf die Dauer nichts als Automatisierung nicht nur der Produktion, sondern auch des nachtrottenden Produktionsarbeiters.

Letzte Schlussfolgerung: Es müssen bei jeder künftigen politischen Bewegung sämtliche Widersprüche, die bisher schon im Kampf auftauchten, auch in die Theorie aufgenommen werden. Um nur beim KBW zu bleiben: So intensiv der Einsatz dieser Gruppe war schon in Wyhl, bei Startbahn West, um Grohnde und Brokdorf, beim Strassenbahnkampf, in der Auflehnung gegen Unterdrückungen aller Art - wir hatten bei alledem immer das traurige Gefühl, nicht bei den “eigentlichen” “Klassenkämpfen” mitzumischen - denen in der Fabrik. Dass zum Beispiel viele der ausserfabriklichen Kämpfe auch solche um Naturressourcen und damit um die Reproduktion der Arbeitskraft im weitesten Sinn gewesen waren, wir gestanden es uns damals nicht ein und sanken allmählich zusammen. Wir hatten an entscheidenden Auseinandersetzungen teilgenommen und es nicht gemerkt.

Notwendige weitere Lehre: Es muss gekämpft werden können ohne Prophet und Prophezeiung. Beim KBW war die subjektive Anstrengung, so nötig sie war, so überwältigend, dass sie nur ertragen werden konnte im Licht der Voraussage: In soundsoviel Jahren, zuletzt wohl zehn, hat die Revolution gesiegt. Ohne solche Garantiezettel, gleichsam ins Offene sich einsetzen, auch auf Terrains, die zunächst als Teilgebiete erscheinen: das wäre eine weitere wichtige Konsequenz aus der Niederlage auch der chinesischen Revolution.

Und schliesslich hiesse es wohl, eine Weisung Walter Benjamins der religiösen Hülle entkleiden. Wenn er sagt, man müsse um der geschändeten Vorfahren willen sich erheben, nicht für das Glück der imaginären Enkel, müsste das übersetzt werden: Es muss im Bewusstsein der Niederlagen der Kampf angetreten werden, im schärfsten Blick auf die Entstellungen, die bisherige Revolutionäre sich antaten, um ein Jahr oder fünf Jahre oder gar zehn weitermachen zu können. Gerade nicht im fahlen Schein der guten Vorsätze, wir würden im Neujahrschnee anders an die Sache herangehen. Nein, in der Gewissheit, dass unsere Züge nicht weniger entstellt, unsere Hände nicht weniger schmutzig sein werden als die jener, die uns vorangegangen. Aber mit dem kleinen Unterschied, dass wir aufeinander achten wollen, aufpassen, wann es mit uns so weit ist, dann die Narben und Wunden nicht verstecken und zudecken, sondern offen ins Licht halten. Licht der Diskussion, der Überlegung, unter Umständen sogar in der Konsequenz der Notwendigkeit des Rückzugs, ja des Aufhörens.

Soviel und keineswegs umfassend zu Bökes Buch über eine Zeit, die dann die fruchtbarste für künftiges Vorgehen sein wird, wenn sie - wie hier - dem Vergessen und der hochnäsigen Verachtung entrissen wird. So wie sie uns jetzt schon in Zeiten der kämpferischen Hoffnung zurückgeleitete, ohne Verklärung, aber im harten und genauesten Novemberlicht.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

Henning Böke: Maoismus. China und die Linke – Bilanz und Perspektive. VSA Verlag, Stuttgart 2007. 215 Seiten, ca. 14.00 SFr. ISBN 3-89657-596-1

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