Günter Wallraff: Der Aufmacher Den „Untergrundkommunisten“ ausgegraben

Sachliteratur

Günter Wallraff erzählt aus erster Hand über die Zeit, die er 1977 getarnt als Hans Esser in der BILD-Redaktion Hannover verbrachte.

Investigativjournalist Günter Wallraff, aufgenommen am 19. Juni 2012 in der Kölner Südstadt (nahe Lutherkirche).
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Investigativjournalist Günter Wallraff, aufgenommen am 19. Juni 2012 in der Kölner Südstadt (nahe Lutherkirche). Foto: Christoph Hardt (CC BY-SA 4.0 cropped)

1. November 2016
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Korrektur
Als dieses Buch erscheinen sollte, musste Wallraff sich gegen etliche persönliche und politische Diffamierungsversuche und ein weitreichendes juristisches Verfahren wehren. Jede Zeile dieses Buches wurde von RechtsanwältInnen und RichterInnen auf mögliche Übertreibungen oder Lügen überprüft. In diesem Zusammenhang fiel auch unzutreffenderweise der Begriff des „Untergrundkommunisten“, mit dem Wallraff bezeichnet wurde. Dennoch erschien das Buch schliesslich mit einigen Abänderungen.

Wallraff ist zum Zeitpunkt des Geschehens Mitte Dreissig und so wenig BILD-Redakteur, wie es möglich scheint. Er weigerte sich beim Wehrdienst zehn Monate lang ein Gewehr in die Hand zu nehmen, schrieb Berichte über verschiedene Industriebetriebe sowie soziale Institutionen und wurde aufgrund eines Protestes im faschistischen Athen gefoltert und inhaftiert. Hans Esser jedoch, der im März 1977 in der Bemeroder Strasse sein Vorstellungsgespräch bei der BILD hat, ist ein ehemaliger Werbetexter, der Psychologie und Betriebswirtschaft studiert hat und sich als leistungsorientiert und kapitalbewusst beschreibt.

Er sieht klar die Schnittstelle, die BILD zur Werbung hat, schliesslich „meisseln beide mit verkürzten Aussagen das Beabsichtigte heraus“ (S. 34). Nach dem Prinzip: Verwirrung stiften, Problem herausarbeiten, Lösung anbieten. Im Einstellungsgespräch fällt auch die einzigartige Sprache der BILD-RedakteurInnen zum ersten Mal auf. Sie erinnert Wallraff an „Ganovensprache“. Er solle „knallhart“ „einsteigen“, um zu „verbraten“, und wenn er knallhart genug verbraten habe, könne er „eingekauft“ werden. Nach dem erfolgreichen Ende des Einstellungsgesprächs beginnt Wallraff, nun als Hans Esser, seine Karriere bei BILD.

Arbeitsbedingungen bei BILD

„Eingekauft“ zu werden heisst bei BILD, eine feste Anstellung zu erhalten. Etwa die Hälfte der BILD-JournalistInnen ist nicht angestellt, sondern ist im Status der Freien. Ein „Freier“ zu sein bedeutet, sechs, manchmal sieben Tage die Woche zu arbeiten, keine garantierten freien Tage, keine Sozialleistungen, keine gewerkschaftliche Organisation oder Kündigungsschutz zu haben. Ausserdem erhalten sie ihren Lohn pro Zeile, die für die Ideologie der BILD-Zeitung zu gebrauchen ist. Der Preis einer Zeile schwankt mit AutorIn und Thema des Artikels. Alles Politische und Soziale beispielsweise hat einen sehr schlechten Kurs und geringe Chancen ins Blatt zu kommen. Oft wird zu wenig oder gar nicht gezahlt. Die Arbeitsatmosphäre ist auf jeder Ebene von extremer Konkurrenz gekennzeichnet. Man hat etwa zwei Stunden, um dem „Nachrichtenführer“ seinen Artikel vorzustellen, nicht völlig ausrecherchiert und auf keinen Fall schon geschrieben.

Wenn dem „NaFü“ die Idee hinter dem Artikel gefällt wird sie an die Zentrale in Hamburg weitergeleitet, wo sich dann die Nafüs der einzelnen Abteilungen gegeneinander durchsetzen müssen. Falls der Artikel es in die Ausgabe der BILD schafft, ist er also schon fest eingeplant, noch ehe er geschrieben oder fertig recherchiert ist. Auch Überschriften und Seitenlayout stehen an diesem Punkt schon fest. Da sich die Realität selten dem idealen BILD-Narrativ anpasst, muss gelogen und manipuliert werden. Falsche Polizeiinformationen werden präsentiert, Leute werden bestochen, oder es wird mit der Nennung des Namens gedroht. All dies bleibt an einfachen JournalistInnen hängen, die Nachrichtenführer machen sich die Hände nicht schmutzig. Es gibt keine fachliche Expertise. Alle schreiben über alles. Denn es geht nicht um informative Inhalte, sondern um Geschichten; nicht ums Berichten und Kommentieren, sondern um das Gestalten eines bestimmten Narratives.

Hinzu kommt, dass, obwohl gleichgeschaltet, die KollegInnen der BILD-Redaktion auf keinen Fall gleichgestellt sind. Es zieht sich eine Hierarchie von CDU-FunktionärInnen und reaktionären SittenwächterInnen durch die Redaktion, die die politische Linie angeben. Die Aggressivität der KollegInnen gegen den Chefredakteur wird immer wieder in zufälligen Gewaltakten an ihren MitarbeiterInnen, ungezügeltem Alkoholismus und in einem menschenverachtenden Zynismus gegenüber den LeserInnenn abgebaut. Gerne wird die Leserschaft als „Primitive“ und „der Dreck des Milieus“ beschimpft.

Es scheint, als würde in der Redaktion eine Miniaturversion der Gesellschaft geschaffen, wie es sich die BILD-IdeologInnen vorstellen: isolierte Individuen, die durch das System gezwungen sind, ihre Vorstellungen und moralischen Prinzipien aufzugeben, um dazu beizutragen, es aufrechtzuerhalten. Und wie in der echten Gesellschaft führt diese Politik auch in der BILD-Redaktion zu Depressionen, Stress und Panikanfällen.

Suche nach der Schuld

Eine Frage, die sich durch den Bericht zieht, ist die Frage nach den TäterInnen. Dass durch die BILD eine Art des Verbrechens, eine besondere Form der „Gewalt“, begangen wird, scheint klar. Aber wer begeht diese Verbrechen, wer übt diese Gewalt aus? Es gibt keine Anweisung zum Lügen und Verletzten. Niemand sagt, "denk dir doch mal Dieses oder Jenes aus", es passiert fast wie von selbst. Wenn man es seit Tagen nicht ins Blatt geschafft hat und anfängt, um seine Stelle bei BILD zu bangen, dann entsteht die Art von Verhalten, wie sie von Wallraff beschrieben wird. Die Atmosphäre, die diesen menschenverachtenden Zynismus züchtet, kommt wiederum von bestimmten Personen, die aber selbst nur Angestellte sind. Die Frage nach den TäterInnen bleibt bei Wallraff ungeklärt, eröffnet aber wie von selbst eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf die Frage nach Schuld an Unterdrückung und Ausbeutung.

Eine weitere wichtige Perspektive, die Wallraff in seinem Bericht aufmacht, ist die der Psychoanalyse. Zu diesem Zweck nutzt er eine psychoanalytische Analyse der BILD durch den Springer Verlag, die dazu dienen soll „die Zeitung bewusster zu konzipieren“ (S.34) und „den Werbeträger BILD erfolgreicher zu nutzen“. Durch diese Perspektive wird deutlich, wie die BILD das öffentliche Meinungsbild im Interesse eines bürgerlich, konservativen Milieus manipuliert. Ein zentrales Thema bei der Analyse der BILD ist die Verbreitung von Angst. Keine Furcht, denn Furcht hat einen Grund, einen Grund der sich zur Not abschaffen liesse. Angst lähmt, Furcht verändert. Diese Angst wird produziert, indem zufällig schreckliche Einzelschicksale ohne gesellschaftlichen Kontext dargestellt werden. Die Gesellschaft wird auf einzelne Personen und gesellschaftliche Missstände auf zufällige Unfälle heruntergebrochen, um auf keinen Fall in den etlichen Ungerechtigkeiten eine Art von System oder Muster zu erkennen.

Die echten Probleme gehen in einem Meer der Einzelschicksale unter. Das ist die Methode BILD: Politik vermitteln an scheinbar unpolitischen Objekten. Assoziationen aufbauen, Informationen verdrehen oder schlichtweg Lügen. Dies produziert ein Bild der Gesellschaft, das der Nährboden für rechte Politik und Rhetorik ist. Die Aufgabe der BILD ist laut Wallraff, rechte Politik an die ArbeiterInnen zu bringen. Deswegen wird die Darstellung der Reichen und Schönen angepasst, um „Klassenhass“ (S.124) zu verhindern. Es wird immer etwas Edles mit etwas Erbarmungswürdigem verbunden. Zum Beispiel ist die „Mieze“ (liebevoller Name der RedakteurInnen für das nackte Mädchen in der BILD) zwar schön, kann aber nicht kochen und enttäuscht damit ihren Ehemann. Oder der Millionär ist zwar reich, fühlt sich aber so allein in seiner Villa.

Das Erlebte schlägt zurück

Aber die psychologische Wirkung des BILD-Apparates entfaltet sich nicht nur bei seinen KollegInnen und LeserInnen. Auch Wallraff verändert sich. Während es am Anfang nur ein Schauspiel ist, scheint er die BILD-Rhetorik und Maxime immer mehr zu verinnerlichen. Er muss sich selbst dem Druck fügen und sich anpassen. Er wird immer mehr zum Täter in der Struktur des BILD-Totalitarismus. Nur, dass er das alles für einen guten Zweck tut, scheint ihm die Last für die Dinge, die er sagen und tun muss, zu erleichtern.

Er fängt an, sich und seiner Freundin fremd zu werden, er ertappt sich dabei, dass er anderen nicht mehr zuhört. „Steckt ja keine Geschichte drin“ (S. 215). Die Furcht davor, entdeckt zu werden, schleicht sich mittlerweile sogar in seine Träume ein. Das Gefürchtete geschieht zuletzt auch. Am 22. Juni 1977 wird er telefonisch gewarnt, ein Magazin in Hamburg habe erfahren, Günter Wallraff arbeite undercover in der BILD-Redaktion. Er verlässt am selben Tag die Redaktion. Hans Esser gibt es nicht mehr.

Was die analytische Tiefe des in Kommentarform gehaltenen "Aufmachers" noch verstärkt, ist, dass Günter Wallraff nicht über Andere schreibt, sondern über sich selbst. Der Eindruck, den man so von der BILD-Redaktion erhält, ist sehr viel tiefer, als er in jedem anderen Kontext hätte sein können. „Der Aufmacher“ von Günter Wallraff ist ein Klassiker. Er ist charakterisierender Eindruck einer bestimmten Periode und gleichzeitig mehr als das. Durch seinen politischen Kommentar, seinen psychologischen Bezug und seinen Entstehungskontext ist dieses Buch ein einzigartiges Werkzeug für linke Medienkritik. Es muss sich nicht auf Spekulationen und Theorie verlassen werden, denn dank dem "Aufmacher" wissen wir, wie es war. Natürlich bleibt die Frage der Relevanz. Die BILD hat sich seit 1977 stark verändert.

Sie fungiert heute weniger als offensichtliches „Kampfblatt eines festen politischen Lagers“ (S.10), sondern erscheint als inhaltleeres Entertainmentmedium. Das macht sie aber nicht weniger politisch. Die Tendenz des Politikmachens an scheinbar unpolitischen Objekten, die Wallraff im "Aufmacher" feststellt, wurde weitergeführt und ist heute subtiler, als sie es noch 1977 war. All das macht den Umstand, dass Wallraff heute für RTL arbeitet, umso bedauernswerter.

Liam Povey
kritisch-lesen.de

Günter Wallraff: Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war. Kiepenhauer & Witsch, Köln 2012. 280 Seiten, ca. 14.00 SFr. ISBN 978-3-462-04487-4

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