Gero von Randow: Wenn das Volk sich erhebt. Schönheit und Schrecken der Revolution Der Geschichte ein Schnippchen schlagen

Sachliteratur

Was ist entscheidender für eine Revolution: das zielbewusste Handeln oder die gesellschaftlichen Bedingungen?

Revolution in Berlin, 1918. Maschinengewehrposten der Volksmarine. Division am Begas-(Neptun
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Revolution in Berlin, 1918. Maschinengewehrposten der Volksmarine. Division am Begas-(Neptun Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1971-038-54 (CC BY-SA 3.0 cropped)

25. April 2019
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Dieses Buch hat mich neugierig gemacht. Ich wusste, dass von Randow, bevor er 1992 Redakteur bei der ZEIT wurde, Kommunist war. Ein Tatbestand, den er in diesem Text auch mehrfach erwähnt. Kommunist_innen, die sich an den Normen eines durch Karl Kautsky geprägten orthodoxen (Partei-)Marxismus orientiert haben – Lenin gehörte hier dazu, auch wenn er Kautsky in anderen Fragen heftig kritisiert hatte – sind durch eine bestimmte Sicht auf geschichtliche Entwicklung geprägt.

Diese Entwicklung wird durch historische Gesetzmässigkeiten bestimmt, durch einen Widerspruch zwischen der Dynamik der Produktivkräfte und den (eigentums-)rechtlichen Fesseln der Produktionsverhältnisse, die für die Entwicklung der Produktivkräfte zu eng werden und deshalb durch Revolutionen gesprengt werden müssen.

Nach dieser Lesart gibt es objektive gesellschaftliche Voraussetzungen für revolutionäres Handeln und für den Erfolg dieser Revolution. Für die Sozialdemokratie, deren Theoretiker Kautsky war, bedeutete das eine Gesellschaftsveränderung ohne revolutionäre Aktion. Die SPD war eine revolutionäre, aber nicht selbst Revolution machende Partei. Lenin dagegen bevorzugte das revolutionäre Handeln, ohne darauf zu warten, ob die objektive Reife der Gesellschaft für die Revolution bereits erreicht worden war. Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat die russische Revolution deshalb eine Revolution gegen das „Kapital“ von Marx genannt.

Das Ziel der Revolutionen: Freiheit

Mit diesem Geschichtsdeterminismus und zugleich politischen Abwarten eines Kautsky hat Gero von Randow nichts am Hut, aber auch vom revolutionären Voluntarismus der Bolschewiki distanziert er sich entschieden. Von Randow versucht die Frage der Revolution gleichsam von mehreren Seiten einzukreisen. Er definiert zu Beginn eine für ihn zentrale Voraussetzung, um von Revolutionen sprechen zu können: „Das Wort revolutionär ist nur auf solche Revolutionen anzuwenden, deren Ziel die Freiheit ist“ (S. 59). Er nimmt dieses aus der Französischen Revolution stammende Zitat als Norm, um verschiedene Formen von Aufruhr, Aufständen, Revolten und Revolutionen voneinander abzugrenzen.

Dabei versucht er nicht in einem, sondern 13 kleinen Essays sich verschiedenen Phänomenen der Revolution anzunähern, sie zu vertiefen. Er skizziert dabei einige wichtige Revolutionen, eine Reihe von Berufsrevolutionären, die Dramaturgie der Revolutionen, das Verhältnis der revolutionären Eliten zur Volksmasse oder Arbeiterklasse und die Rolle der Konterrevolutionen.

Dieses Herangehen an die Rolle der Revolutionen für die geschichtliche Entwicklung und für die inneren Umwälzungen von Gesellschaften hat ohne Zweifel Vorteile, weil sie keinen vorgefassten Revolutionsbegriff oder gar einer Theorie der Revolution wie im orthodoxen Parteimarxismus folgt. Hier würde normativ vorentschieden, was eine historisch angemessene Revolution sein kann und was nur Aufstände, Proteste und Revolten sind.

Der Nachteil einer solchen Methode besteht darin, dass damit eine Reihe von ganz unterschiedlichen Revolutionen skizziert werden: solche, die von welthistorischer Bedeutung sind, wie die Französische oder die Russische Revolution; oder eher unbedeutende Revolutionen, wie die Massenaufstände des Arabischen Frühlings; kleine und unvollständige Revolutionen, wie in Deutschland ab dem November 1918.

Auch diese Revolutionen haben wichtige historische und institutionelle Spuren hinterlassen, sie haben die parlamentarische Demokratie und den Sozialstaat initiiert und damit zu nachhaltigen Gesellschaftsveränderungen geführt. Die Anstösse, die Detonationen sahen zunächst nach Revolutionen aus, diese aber scheiterten und Gesellschaften fielen wieder in Agonie oder in einem dauernden Bürgerkrieg zurück, wie dies 1979 in Afghanistan nach dem Putsch einer Gruppe Offiziere und deren gescheiterter Modernisierungsdiktatur der Fall gewesen ist.

Struktur und Handlung

Im frühen sozialdemokratischen Geschichtsoptimismus ist ein bestimmtes Verhältnis von gesellschaftlicher Struktur und politischen Handeln angelegt, das aber nicht offengelegt und kritisch diskutiert wird. Hier folgt politisches Handeln einer geschichtlichen Entwicklung, die durch politökonomische Gesetzmässigkeiten bestimmt wird. Der historische Anarchismus bildete dazu den Gegenpol, weil er revolutionäres Handeln nicht von einem objektiven Entwicklungsstand abhängig machte. Wir sehen hier ein Spannungsverhältnis von, soziologisch gesprochen, Struktur und Handlung.

Menschen handeln zielbewusst, aber sie handeln unter unmittelbar vorgefundenen und von ihnen selbst nicht geschaffenen Bedingungen. Diese wiederum bestimmen ihr Bewusstsein und damit ihre Handlungen. Von Randow thematisiert dieses Verhältnis von Struktur und Handlung, wenn er in Anlehnung an Crane Brinton ("The Anatomy of Revolution") die Bedingungen von Revolutionen skizziert: krasse Unterschiede und zu wenig Durchlässigkeit zwischen den sozialen Klassen, grosse Unterschiede zwischen arm und reich, der offene Verfall der staatlichen Ordnung und ein zerfallendes Selbstbewusstsein der herrschenden Klassen. Entscheidend sind die letzten beiden Faktoren.

Am Beispiel der russischen Oktoberrevolution 1917 und der deutschen Novemberrevolution 1918 kann das veranschaulicht werden. Anders als in Russland waren staatliche und militärische Macht in Deutschland trotz der Niederlage im Weltkrieg nicht so weit erodiert, dass eine Revolution wie in Russland Erfolg hätte haben können. Auf die Handlungsebene übertragen bedeutet das, dass innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung zunächst die Politik der Mehrheitssozialdemokratie erfolgreich war und sich in der Zusammenarbeit mit Unternehmen und Militär ein Mindestmass an politischer und sozialer Stabilität durchsetzte, was spätestens ab 1921 eine Revolution unmöglich machte.

Das hat nichts mit Verrat zu tun, sondern beschreibt, dass die SPD und mit ihr die Teile der USPD, die nicht zur KPD gewechselt waren, eine realistischere Wahrnehmung der politischen Handlungsmöglichkeiten unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen hatten als die Führungsgruppen der KPD, deren Putschversuche im März 1921 und im Oktober 1923 kläglich scheiterten.

Nach 1918: Blockierte KPD und naive SPD

Die KPD und mit ihr die Kommunistische Internationale waren mit dieser Orientierung auf eine Revolution in Deutschland doppelt blockiert. Einmal durch den Glauben an die gesetzmässig notwendige Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus und zum zweiten durch die Annahme eines Modellcharakters der bolschewistischen Revolution.

Sie hatten auf eine Identität von Struktur und Handlung, also von gesellschaftlicher Entwicklung und revolutionären Handlungen gesetzt und mussten damit scheitern, weil weder der deutsche Kapitalismus sich objektiv in einer Vorstufe zum Sozialismus befunden hatte noch die Mehrheit der Arbeiterklasse revolutionär gesinnt war. Was den ersten Pol dieses Verhältnisses betrifft, so war die SPD in dieser noch optimistisch.

Rudolf Hilferding prägte den Begriff des „organisierten Kapitalismus“ und SPD und Gewerkschaften wollten mit ihrem Konzept einer „Wirtschaftsdemokratie“ mindestens die Kommandohöhen des deutschen Kapitalismus erobern, allerdings ohne eine politische Revolution.

Die politische und theoretische Naivität der SPD in den 1920er Jahren bestand nicht nur in der Fehleinschätzung des Entwicklungsgrades der kapitalistischen Produktion, die damals an der Schwelle der heute als Fordismus bezeichneten tayloristischen Massenproduktion stand, sondern in der völligen Unterschätzung der Rolle einer Zivilgesellschaft für eine funktionierende Wirtschaftsdemokratie.

Von Randow beschreibt diese historischen Prozesse, versucht aber nicht sie zu erklären. Möglicherweise ist diese Selbstbescheidung auch sinnvoll, wenn wir uns dem Phänomen der Revolutionen über Narrative nähern. Eine historische Notwendigkeit und objektive Voraussetzungen für Revolutionen zu begründen, muss scheitern, weil die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Handlungen von Menschen ohne Zweifel prägt, sie aber nicht bestimmt. Es bleibt noch genügend Raum für Eigensinn. Der ist nicht vorhersehbar.

Michael Wendl
kritisch-lesen.de

Gero von Randow: Wenn das Volk sich erhebt. Schönheit und Schrecken der Revolution. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 311 Seiten, ca. 33.00 SFr. ISBN: 9783462048766

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