Fatima El-Tayeb: Undeutsch Wider die Rassismus-Amnesie!

Sachliteratur

30. November 2017

Deutschland post-rassistisch? Wohl kaum. Die Entsolidarisierung mit vermeintlich „Undeutschen“ ist allgegenwärtig.

Migranten in der ehemaligen Gerhart Hauptmann Schule an der Ohlauer Strasse in Berlin Kreuzberg, Juni 2014.
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Migranten in der ehemaligen Gerhart Hauptmann Schule an der Ohlauer Strasse in Berlin Kreuzberg, Juni 2014. Foto: Markus Winkler (CC BY-SA 2.0 cropped)

30. November 2017
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Wie passt das zusammen – die mehrheitsgesellschaftliche Überzeugung, dass Rassismus nicht in Deutschland (und Europa) existiere, bei gleichzeitiger, fortwährender Abwertung von all jenen, die nicht als „deutsch“ erachtet werden. Fatima El-Tayeb geht genau dieser Frage auf den Grund. Sie analysiert in ihrem Werk die Mechanismen, durch die Menschen in Deutschland als „undeutsch“ und damit nicht-zugehörig konstruiert und gesellschaftlich ausgeschlossen werden. Anhand ihrer Betrachtung „zeitgenössischer deutscher Erinnerungsdiskurse“ (S. 39) seit 1989 macht die Professorin für Literatur und Ethnic Studies die zugrunde liegenden Tiefenstrukturen der deutschen (und auch europäischen) Gesellschaft sichtbar, die an ihrem weissen, christlich-sozialisierten, als Zentrum von Demokratie und Menschenrechten verstandenen Selbstbild festhält.

„Undeutsch“ nimmt eine explizit marginalisierte Perspektive ein, „nämlich die derjenigen, die in Vergangenheit und Gegenwart als ‚undeutsch' kategorisiert wurden – als nicht nur nicht zur nationalen Gemeinschaft gehörend, sondern diese durch ihre Anwesenheit gefährdend, destabilisierend“ (S. 34). Es fungiert als „Fortsetzung von als auch als Gegenstück“ (S. 7) zum Vorgänger „Anders Europäisch“ (2015). Es bezieht sich auf den deutschen Kontext und problematisiert den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Rassifizierten. Rassifizierung wird dabei verstanden als „Zuschreibung kollektiver quasi-biologischer und/oder kultureller Eigenschaften, die die Wahrnehmung bestimmter Gruppen als nicht-zugehörig erlaubt, auch wenn sie bereits Teil der Gesellschaft sind“ (S. 34), in engem Verhältnis zu nationaler, deutscher Identität, die sich in Abgrenzung von „Undeutschem“ manifestiere.

Die Autorin bescheinigt der Gesellschaft einen „pathologischen Wiederholungszwang“ (S. 9), der aus einer Amnesie resultiert: Vermeintlich „Fremde“ werden immer wieder neu „entdeckt“ und damit fortwährend als „fremd“ und gefährlich markiert. Die Mehrheitsgesellschaft kann dadurch ihr weisses Selbst produzieren und sich dabei laufend ihrer eigenen Rechtschaffenheit versichern. Die Rekonstruktion von Undeutsch gliedert sich in drei Teile, die sich aus der Fokussierung auf postkolonialistische, postsozialistische und postfaschistische Gesellschaftszustände ergibt.

Koloniale Nachbeben

El-Tayeb betont im ersten Teil die Notwendigkeit einer Rassismusanalyse, die strukturelle Änderungen berücksichtigt und „spezifisch europäischen Konstellationen Rechnung trägt“ (S. 40). Ihr Buch macht diesbezügliche Reflexionen sowie den Einbezug von antirassistischem Aktivismus und Theorien von People of Color zum Thema. Im weiteren Verlauf des Kapitels erörtert sie Stuart Halls Konzept der internalistischen europäischen Geschichte sowie Johannes Fabians Konzept der evolutionären Zeit. Halls Bezeichnung Europas als „internalistisch“ beschreibt die europäische Fortschrittserzählung und Historie, die unabhängig von globalen Entwicklungen konstruiert werde und ein zentrales Element europäischer Identität ausmache. Auf diese Weise werde die (Mit-)Verantwortung Europas für Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse des Globalen Südens negiert. Mit Fabians Konzept liesse sich das dominierende westliche Raum-Zeit-Modell nachvollziehen, anhand dessen alle anderen Regionen gemessen würden. So werde der Globale Süden und seine Entwicklung in Europas Vergangenheit verortet und damit als rückschrittlich konstruiert. Im zweiten Kapitel folgt die eigentliche Auseinandersetzung mit Postkolonialismus und Vergangenheitsbewältigung, wobei El-Tayeb hierfür zwei Beispiele „kolonialer Nachbeben“ (S. 65) herausgreift.

Zum einen analysiert sie die Rassifizierung von Rom_nja und Sint_ezze im Zuge des Mauerfalls und später der EU-Erweiterung. Sie fokussiert zunächst das rassistische Narrativ über Rom_nja und Sint_ezze zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ihre Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialist_innen und die jahrzehntelangen Kämpfe um Anerkennung. Nachfolgend wird der Rassismus im Zuge von Debatten über „ostdeutsche ‚Flüchtlingswellen'“ (S. 112) im Vorfeld und nach dem Mauerfall thematisiert. El-Tayeb geht in diesem Zusammenhang detailliert auf das rassistische Klima in Deutschland ein, in der Sint_ezze und Rom_nja als fundamentale Bedrohung stigmatisiert wurden. Mithilfe dieses Narrativs seien rechtsextremistische Pogrome und Übergriffe verharmlost sowie Sint_ezze und Rom_nja zu „Deutschenfeinden“ stilisiert worden. Diese Täter_innen-Opfer-Umkehr fände nach El-Tayeb ihren Höhepunkt im Vorwurf der „rassistischen Deutschenfeindlichkeit“ (S. 138). Dieser Versuch, Deutsche als „wahre Opfer“ (S. 132) darzustellen, ginge mit einer Konstruktion Migrantisierter als neue Nazis einher. Es entlaste, so die Autorin, auch die deutsche Schuld des Nationalsozialismus und imaginiere die rassistische Ausgrenzung von Migrantisierten gar als „antifaschistische Selbstverteidigung“ (S. 139).

Gesellschaftliche Entsolidarisierung

Der dritte Teil fokussiert „postfaschistischen Multikulturalismus“ und thematisiert zunächst die Aushandlungen um Deutschland als Einwanderungsland. Ausgehend von den Ursprüngen des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts skizziert El-Tayeb die bis heute bestehenden Spannungen zwischen einem „völkischen“ und einem modernen Staatsbürgerschaftskonzept. Anhand der Debatten um Migrationshintergrund und Multikulturalismus macht sie deutlich, wie der Ausschluss migrantisierter Deutscher Teil deutscher Identität zu sein scheint. Prozesse des Ortherings in Europas, also, dass Menschen zu „Anderen“ gemacht werden, werden als „Abendlandfixierung“ (S.164f.) diskutiert, die sich am eindringlichsten in der Debatte um muslimischen Antisemitismus und „Islamofaschismus“ zeigten. Die Feindkonstruktion des Islam werde gegenwärtig auf ein neues Level gebracht – während europäischer Kolonialismus und Faschismus ausgeblendet und allenfalls als für Europa atypische Ausnahmefälle dargestellt würden.

El-Tayeb geht ausführlich auf den scheinbaren Widerspruch ein, dass Muslim_innen als Gefahr und nicht gefährdet wahrgenommen werden, obwohl selbige häufig Opfer rassistischer Gewalt sind. Die Gleichsetzung von Islam und Faschismus werde insbesondere von rechten Parteien in Europa vorangetrieben, fände aber auch Eingang in gesamtgesellschaftliche Debatten. Hiermit geht die Autorin auf aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und Europa ein.

El-Tayeb beschreibt die Reproduktion dieser Thematik exemplarisch anhand von Diskussionen über Ausstellungen über rassistische Gewalt und Widerstand dagegen, sowie über Rassismus in Kinderbüchern. Hieran zeige sich die Ignoranz und das Unsichtbarmachen von Erfahrungen und Wissen Schwarzer Menschen und People of Color. Die Autorin beschreibt anschliessend die Fokussierung auf muslimischen Antisemitismus in gesellschaftspolitischen Debatten und in der bildungspolitischen Praxis. Diese mache es dem weissen christlichen Europa möglich, sich als Beschützerin von Jüd_innen darzustellen, wodurch Antisemitismus als längst überwundene Ausnahme erscheine. El-Tayeb macht in der mehrheitsdeutschen Solidarität mit jüdischen Opfern von muslimischem Antisemitismus gar eine „gewisse kannibalische Aneignung der Opferidentität durch eine mehrheitsdeutsche Bevölkerung“ aus, jüdische Identität werde als „antifaschistische Geste“ (S. 186) inszeniert und vereinnahmt. Dass die überwältigende Mehrheit der Angriffe auf Jüd_innen durch weisse, deutsche Rechtsextremisten verübt wird, bleibe hierbei unberücksichtigt.

El-Tayeb fokussiert im Schlussteil ihres Buchs gegenwärtigen Rassismus und staatliche Gewalt. Schwarze Deutsche nähmen, so El-Tayeb, in dieser Auseinandersetzung eine besondere Rolle ein, da sie die Vorstellung von dem, was unter deutscher Identität verstanden wird, in Frage stellten. Um unbewusste Überzeugungen weisser Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft aufdecken und analysieren zu können, sei es unabdingbar, die Erfahrungen von Deutschen of Color als zentral einzubeziehen.

Des Weiteren wird die Konstruktion Europas als Ort der Demokratie und die damit einhergehende Dichotomie von Demokratie und Totalitarismus vertiefend betrachtet. Dies sei nur durch eine vollständige Ausblendung von europäischem Kolonialismus und transatlantischer Sklaverei möglich. Im Ergebnis führe dies zu der simplen Vorstellung, dass „Faschisten […] immer die anderen“ seien (S. 223). Abschliessend thematisiert El-Tayeb intersektionale Zusammenhänge anhand der Debatte über die Angriffe in der Kölner Silvesternacht.

An ihr zeige sich eine „gesellschaftliche Entsolidarisierung“ und ein „Ausspielen Marginalisierter gegeneinander“ (S. 225) statt eine tatsächliche Sensibilisierung für Sexismus. Intersektionalität wird mit Verweis auf US-amerikanische Diskurse als politisches Analysemodell verstanden, „das Machtstrukturen analysiert und Widerstandsstrategien sowohl theoretisiert als auch produzieren will“ (S. 226). Diese Perspektive fordert die Autorin auch für die deutschsprachige Analyse und kritisiert die Reproduktion hegemonialer Perspektiven durch die weisse Wissenschaft sowie ihre Ignoranz von Aktivismus und minorisiertem Wissen. El-Tayeb schliesst ihr Buch mit der postmigrantischen Handlungsaufforderung nach einem „Durchbrechen des destruktiven Kreislaufs von Ausgrenzung und Verleugnen [...], der gerade wieder an Kraft zu gewinnen droht“ (S. 232). Deutlich wird hierbei, dass Deutschland der Autorin zufolge bisher keine postmigrantische Gesellschaft ist, vielmehr versteht sie postmigrantisch als eine Utopie, in der der Kreislauf durchbrochen werde.

Dringend benötigte Interventionen

Insgesamt leistet El-Tayeb einen umfangreichen Beitrag zu einer postkolonialen Auseinandersetzung mit Rassifizierung in Deutschland und Europa. Damit trägt sie zur notwendigen, längst überfälligen Perspektiverweiterung migrationswissenschaftlicher Forschung als auch politischer und gesellschaftlicher Debatten bei, die Rassismus häufig nicht berücksichtigen. Insbesondere dieses eklatante Ignorieren rassistischer Strukturen innerhalb von Gesellschaft und Wissenschaft wird anhand ihrer Analysen deutlich. Mit der Betrachtung der jüngsten europäischen Grenzpolitik ist die Publikation zudem von grosser Aktualität und führt die rassistische Konstruktion europäischer und deutscher Identität vor Augen.

El-Tayebs Schreibstil ist durch vielfältige Metaphern, Beispiele und Anekdoten, rhetorische Fragen und Ironie geprägt. Form und Inhalt des Buches gehen somit Hand in Hand, durch den Einbezug der eigenen Positioniertheit innerhalb der rassistischen Strukturen und der Bewertung dieser gelingt es der Autorin auch durch die Art ihres Schreibens das Herrschaftskonstrukt weisser Objektivität in Frage zu stellen. Leser_innen, die sich bereits mit (rassismus-)kritischer Migrationsforschung und Postkolonialer Theorie beschäftigen, finden mit „Undeutsch“ eine erkenntnisreiche Studie mit zahlreichen Fallbeispielen, die erstmals einen Überblick über verschiedene rassistische Verhältnisse und Ausschliessungspraktiken in Deutschland bietet. Bisher weniger mit diesen Theorien vertrauten Leser_innen wird das Buch eine interessante, gut lesbare und perspektiverweiternde Bereicherung sein. Für uns: Ein Buch grösster Relevanz und extrem lesenswert!

Esther van LückEddi und Steinfeldt-Mehrtens
kritisch-lesen.de

Fatima El-Tayeb: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Transcript, Bielefeld 2016. 256 Seiten, ca. SFr 24.00. ISBN 978-3-8376-3074-9

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