Edition Le Monde diplomatique: Chinas Aufstieg Schwach angefangen, stark nachgelassen

Sachliteratur

Kann man dem komplexen Phänomen „China“ auf wenigen Seiten gerecht werden? Zweifel daran sind mehr als angebracht.

Hongkong, 2017.
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Hongkong, 2017. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

22. November 2018
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Dünnes Heftchen, viel dahinter? Der Band „Chinas Aufstieg. Mit Kapital, Kontrolle und Konfuzius“ stellt eine Zusammenstellung von kurzen Artikeln zu Chinas gegenwärtigem Aufbruch dar. Freilich besteht der Reiz einer solchen Publikation darin, auch auf wenigen Seiten möglichst viel unterzubringen. Etwas ungehalten kann man aber schon werden. Der übergreifende Tenor des Heftes lässt sich wohl am besten als einseitiges China-Bashing bezeichnen – mit negativen inhaltlichen Konsequenzen: Viele der Einzelbeiträge kommen immer wieder vom eigentlichen Thema ab, um ausführliche „Seitenhiebe“ in Richtung China zu verteilen.

China als Sündenbock

Das ist so unnötig wie ärgerlich. Ob von europäischer Aussen- oder chinesischer Binnenperspektive, man muss sich sicherlich nicht in China verlieben. Die Beliebigkeit aber, mit welcher der Band China immer wieder zum Sündenbock des Spätkapitalismus ausruft, trägt wenig zu einer tatsächlichen und kritischen Auseinandersetzung mit den komplexen Verflechtungen bei, die China historisch und gegenwärtig in den globalen Kapitalismus einbetten. Was bleibt, ist vielmehr das affirmative „Ach ja, wusste ich es doch“ oder aber eine oberflächliche „Defensivhaltung“, die China zum Paradies verklärt.

Anschauungsmaterial für diese zweifelhafte Haltung liefert etwa Manfred Kriener, der unter dem Titel „Peking fährt voraus“ Chinas Autoindustrie und ihr Verhältnis zur europäischen Konkurrenz genauer unter die Lupe nimmt. Auch hier bleibt ein fader Nachgeschmack. Jenseits aller Kritik, die sicherlich auch der chinesischen Autoindustrie angelastet werden muss (die mitunter untragbaren Arbeitsverhältnisse sind sicherlich nur ein Punkt), ist Krieners durchgehender verteidigender Unterton gegenüber den „alten europäischen Autokonzernen“ schlichtweg fehl am Platz.

Wortwahl und Ton können jedoch nur bedingt darüber hinwegtäuschen, dass Chinas Orientierung in Richtung Elektromobilität um Längen progressiver ist als Europas und Amerikas Festhalten an Dieselfahrzeugen. Das hat nicht zuletzt der VW-Abgasskandal sträflich vorgeführt. Nicht nur hier wäre mehr analytisches Fingerspitzengefühl gefragt. Es bliebe immer noch genügend am Reich der Mitte zu kritisieren.

Die Müllhalde Europas

Eine der Kernfragen der russischen Novemberrevolution war es, ob Sozialismus in einem Land möglich sei. Wenn man das Heft „Chinas Aufstieg“ liest, wird die andere Seite dieser Frage deutlich: Kann Kapitalismus auf ein Land oder gar eine Region begrenzt werden? Die Geschichte der Entwicklung im Reich der Mitte ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil vor dem Aufstieg der Fall kam: China war eine, wenn nicht die zivilisatorische Springquelle einer früheren Zeit. Doch dann kam der Fall. Eine ganz normale Entwicklung, denn Kapitalismus ist eben keineswegs ein statisches System. So wie er sich (weiter)entwickelte, so veränderten sich auch die globalen Kräfteverhältnisse: Der imperiale Finanzkapitalismus der italienschen Stadtstaaten konnte bald ohne die Zivilisationshilfe aus dem fernen Osten auskommen und wurde seinerseits bald ersetzt durch den kulturpragmatischen Handelskapitalismus der Niederlande, der selbst wiederum dem anglo-amerikanischen Industriekapitalismus nicht lange standhalten konnte.

Und heute? Jegliche Antwort auf diese Frage, so viel sollte klar sein, kann sich nicht mit einer rein nationalen Perspektive begnügen. Genau das aber tun die meisten Beiträge des Heftes. Anstatt den Gegensatz von national organisierter (chinesischer) Staatlichkeit und einem global verflochtenen kapitalistischen Wirtschaftssystem zum Ausgangspunkt der eigenen Analyse zu machen, wird zumeist im „heimeligen“ Rahmen des Nationalstaats verblieben. Mehr noch: Es ist erstaunlich, mit welcher Ignoranz die Autor_innen mitunter ihre Thesen formulieren. Das „Prinzip ubuntu“, die Tatsache, dass Nationalstaatlichkeit immer schon von Grenzziehungen und damit von einem Aussen abhängig ist, wird einfach in den Hintergrund gedrängt. Gelegentlich flackert auf, dass die chinesische Politik eben nicht nur einen selbstständigen und auch selbst gewählten Weg geht, sondern durch die Einbettung in ein sich von allen Seiten änderndes globales Kräfteverhältnis geprägt ist.

Das Problem aber ist, dass das Gesamtthema „Chinas Aufstieg“ nicht durch eine Aneinanderreihung von Einzelpunkten zu fassen ist – was vorgelegt ist, ist nicht einmal ein Kaleidoskop. Ausnahmen wie der Beitrag zum „Müll der Anderen“ von Heike Holdinghausen und Felix Lee sowie jener über das „Tomatenmark für die Welt“ (Stefano Liberti) geben zumindest einen kleinen Einblick in das, was Globalisierung tatsächlich bedeutet: Es geht um komplexe Beziehungen, die einem gordischen Knoten gleichkommen. Schade, dass diese Artikel eine Ausnahme bleiben.

Der Herausforderung, eine Länderanalyse vorzunehmen, die eben nicht nur an einem Land ansetzt, sondern an einer gesellschaftlichen Herausforderung und von dort versucht, nationale Geschichten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beleuchten, ist das Heft – so deutlich muss man es leider sagen – nicht gewachsen. Heute, mehr denn je, geht es um globale Herausforderungen. Internationaler Handel, demographische Entwicklung (einschliesslich Migration), Umbrüche im Produktionsprozess, einschliesslich der Verschiebung hin zu „neuen Dienstleistungen“, und natürlich Fragen der Umwelt müssten Ausgangs- und Endpunkt jeglicher Analyse Chinas sein.

Und so ist es fehl am Platze, an China immer wieder das zu kritisieren, was in anderen kapitalistischen Ländern längst zur Gewohnheit geworden ist. Anstatt einseitig die geopolitischen Ansprüche Chinas an den Pranger zu stellen, wäre es doch nicht weniger wünschenswert, jene westlichen Interessen zu benennen, die das Land in eben diese Lage gezwungen haben. Allen voran: die Strategie des „Westens“, China als verlängerte Werkbank und als Müllhalde des „Nordens“ zu benutzen. Das „Umdenken in China“, folgern Heike Holdinghausen und Felix Lee dann wiederum ganz richtig, „legt die Versäumnisse der deutschen Umweltpolitik bloss, die sich in den letzten Jahren auf Erfolgen der Vergangenheit ausgeruht hat“ (S. 86). Hiesige Recyclingquoten wurden „mit Exporten nach Asien jahrelang schöngerechnet“ (ebd.).

Jenseits westlicher Hegemonieansprüche

Insgesamt kann es nicht darum gehen, gleichsam neidvoll und mehr oder weniger feindlich den Blick nach China zu richten, sondern anzuerkennen, dass Probleme im Raum stehen, die eine Lösung verlangen und für die auch – mehr oder weniger leicht – Lösungen zu finden sind. Schön wäre gewesen, wenn die Beitragenden dies ganzherzig in den Vordergrund gestellt hätten. Sicher hat China geopolitische Machtinteressen, und sicher liegen dabei Spiel und Ernst gefährlich dicht beieinander – wie etwa im von Olivier Zajec behandelten Computerspiel „Drei Felsen, fünf Inseln“.

Aber ebenso sicher ist, dass Globalisierung zu leicht als Entschuldigung zum Nichtstun verwendet wird. In den Worten von Philip S. Golub: Um „rationale Planung, lenkende Hände“ (S. 40) nicht als Bedrohung des „Westens“ zu empfinden oder empfinden zu müssen, muss eben dieser Westen auch klar erkennen, dass zumindest ein erheblicher Teil dessen, was er als „chinesische Bedrohung“ wahrnimmt, nicht zuletzt aus der Infragestellung seiner bisherigen Hegemonie herstammt.

Anders formuliert: Die Frage, ob es Sozialismus oder Kapitalismus in einem Land geben kann, ist beiderseits falsch gestellt. Hauptaufgabe kann es niemals sein, auf Nationen und Nationalismen zu konzentrieren. Stattdessen muss es immer darum gehen, den Blick auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit zu richten.

Peter Herrmann
kritisch-lesen.de

Edition Le Monde diplomatique: Chinas Aufstieg. Mit Kapital, Kontrolle und Konfuzius. taz Verlag, Berlin 2018. 112 Seiten. ca. 16.00 SFr., ISBN: 978-3937683690

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