David Harvey: Marx' „Kapital“ lesen Ein Kompagnon mit Stärken und Schwächen

Sachliteratur

19. April 2018

Marx' berühmteste Schrift ist keine leichte Kost. Kann David Harvey uns dabei helfen?

Büste von Karl Marx im Garten seines Geburtshauses in Trier.
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Büste von Karl Marx im Garten seines Geburtshauses in Trier. Foto: Elmar Zenner (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. April 2018
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Im Jahr 2017 jährte sich das Erscheinen des ersten Bandes von Karl Marx' wichtigstem Werk „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“ zum einhundertfünfzigsten Mal. Marx' monumentaler Publikation wurde daher ein erfreuliches Mass an Aufmerksamkeit zuteil. Den dicken Band im Original zu studieren, schreckt viele allerdings ab. Was also liegt näher, als sich mithilfe von Sekundärliteratur einen Überblick zu verschaffen? Neben dem relativ bekannten Büchlein „Kritik der politischen Ökonomie“ von Michael Heinrich aus der Reihe theorie.org (2005), können deutschsprachige Leserinnen auch David Harveys „Marx' „Kapital“ lesen“ zur Hand nehmen.

Harvey ist bekannt für seine an marxistischer Theorie orientierten Arbeiten zur Humangeografie. Viele Linke dürften Harvey aber vor allem durch die auf seinem Youtube-Kanal einsehbaren Onlinevorlesungen zu Marx' „Kapital“ kennen, die bisher zehntausend-, teilweise sogar hundertausendfach angeklickt wurden.

Auf diesen Videovorträgen basiert auch das vorliegende Buch, das 2011 auf Deutsch erschienen ist. Der Autor betont, es handele sich bei dem Band nicht um eine Einführung oder Interpretation, sondern um einen „Begleiter auf einer Reise“ (S. 9). Begleitet wird man allerdings nur durch den ersten Band des „Kapitals“. Während für den zweiten Band des Kapitals bereits ein weiterer Begleitband von Harvey (2017) beim VSA-Verlag bereitsteht, muss für die Harvey'sche Sekundärliteratur zum dritten Band noch auf die englische Originalversion zurückgegriffen werden. In seiner Einleitung stellt Harvey zunächst die Vordenker von Marx' „Kapital“ vor. Behandelt werden sowohl Vertreter der antiken und der neuzeitlichen Philosophie als auch bürgerliche Ökonomen und frühe Verfechter des sogenannten „utopischen Sozialismus“.

Das hilft, Marx' Hauptwerk ideengeschichtlich einordnen zu können, das als „Kritik der politischen Ökonomie“ ja in erster Linie eine kritische Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Wirtschaftstheorie sein sollte. Beim weiteren inhaltlichen Aufbau orientiert sich Harvey ausdrücklich an der Gliederung von Marx' Original, wobei er einigen Kapiteln, wie denen zu Ware und Tausch, mehr Aufmerksamkeit widmet, andere wiederum auf das Wesentliche zusammenrafft.

Wo der Begleiter auf Umwege schickt...

Dass es sich beim Buch um überarbeitete Niederschriften von mündlichen Vorträgen handelt, schlägt sich sowohl stilistisch als auch inhaltlich nieder. Das hat Vor- und Nachteile. Der an gesprochener Sprache orientierte, recht saloppe Schreibstil ist eingängig und leicht verständlich, wobei der Autor die Leserinnen auch regelmässig persönlich anspricht. Andererseits drängt sich oft der Eindruck auf, dass Harvey in seinen Vorträgen nicht selten über das gesprochen hat, was ihm zu einem bestimmten Begriff im „Kapital“ gerade durch den Kopf ging. Das führt auch im Buch dazu, dass der Autor immer wieder mäandernd und oft anekdotenhaft Fragen bespricht, die mit dem eigentlichen Gegenstand des jeweiligen Kapitels nur wenig zu tun haben. Mit einer konsequenteren Straffung durch den Autor wäre eine schlankere und zielstrebigere Darstellung entstanden, die mit fast 400 Seiten immerhin halb so lang ist wie der Text des „Kapitals“.

Schwerwiegender ist allerdings, dass die Abschweifungen im Hinblick auf die Marx'schen Begrifflichkeiten durchaus in die Irre führen können und es zu inhaltlichen Ungenauigkeiten kommt. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, wie Harvey vom Begriff des Warenfetischs zu Fairtrade kommt, genauso wenig, was jener mit schlechten Arbeitsbedingungen zu tun haben soll. Bei Marx' Diskussion des Warenfetischs handelt es ich um eine grundlegende Kritik des menschlichen Alltagsbewusstseins, dem der Tauschwert als dingliche, quasi-natürliche Eigenschaft von Gütern erscheint und das ihn nicht als dem Kapitalismus spezifisches gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen in Bezug auf Sachen zu erkennen vermag. Dass Harvey mehrfach den ökonomischen Wert sprachlich mit dem Wert im moralischen Sinne in eins zu werfen scheint, um daraufhin die Entwicklung „alternativer Wertesysteme“ (S. 61) zu fordern, irritiert ebenfalls. Begrifflichkeiten, wie der des „Werts“ oder des „Fetischs“, sind für die ganze marxistische Theoriebildung grundlegend und gleichzeitig nicht leicht zu verstehen. Gerade hier hätte man sich vom Autor mehr Aufmerksamkeit und Genauigkeit gewünscht.

…und wo er hilft

Im zweiten Teil des Buches fallen Harveys Kommentierungen deutlich gelungener aus. Den Anspruch, ein Begleiter zu sein, erfüllt es hier besser. Im Abschnitt über Marx' Maschinerie-Kapitel kommentiert der Autor etwa eine „wichtige Fussnote“ (S. 215) von Marx und beleuchtet damit marxistische Grundfragen etwa zu Technologie und ihrem dialektischen Verhältnis zur Natur, gesellschaftlichen Verhältnissen sowie den geistigen Vorstellungen der Menschen und vieles mehr. In Zusammenhang mit Marx' 23. Kapitel zum sogenannten „allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ übt Harvey Kritik an liberal-bürgerlichen Vorstellung vom Kapitalismus und neoliberaler Politik. Er setzt dabei immer wieder Marx' Ausführungen in Beziehung zu aktuellen Verhältnissen in der globalen Ökonomie.

Das gilt besonders für die Anmerkungen zur sogenannten ursprünglichen Akkumulation, also der historisch ersten Bildung von Kapital, die regelmässig mit Gewalt, Raub und Enteignung von Menschen einherging. Harvey weist darauf hin, dass sich dieser Prozess nicht nur in der Frühzeit des Kapitalismus, sondern stellenweise bis heute abspielt. Positiv hervorzuheben ist auch, dass der Autor über das ganze Buch hinweg zum einen die Denktraditionen beleuchtet, auf die Marx sich bezog. Zum anderen diskutiert er immer wieder die teilweise mangelhafte Rezeption des „Kapitals“ sowohl durch Anhängerinnen als auch Gegnerinnen des Marx'schen Werks.

Die grösste Stärke des Buches ist die Tatsache, dass der Autor ausführlich auf die Dialektik als Marx' zentraler Denkmethode zu sprechen kommt. Harvey gelingt es gut, an konkreten Beispielen deutlich zu machen, wie Marx die kapitalistische Wirtschaftsweise analysiert, indem er vom Besonderen ins Allgemeine „aufsteigt“, also bei der Ware als kleinster Einheit beginnt, um zu Phänomenen wie Geld, Kapital, dem Klassenverhältnis et cetera zu gelangen. Gleichzeitig zeigt Harvey, wie in der Marx'schen Methode gegensätzliche Begriffe dialektisch vereint werden, zum Beispiel beim (abstrakten) Tauschwert und (konkreten) Gebrauchswert, die beiderseits in der Ware „vorhanden“ sind. Klar wird auch, dass es sich bei dieser „Einheit von Gegensätzen“ (S. 38) nicht nur um eine rein stilistische Vorliebe von Marx' handelt, sondern diese Widersprüchlichkeit Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Der Kapitalismus sei ein ständiger „Zustand der widersprüchlichen Einheit“ (S. 39), der sich dauernd in Bewegung befindet. Harveys konsequente Aufmerksamkeit für die Dialektik ist ein Aspekt, den er der oben erwähnten Einführung von Michael Heinrich klar voraushat.

Das Buch endet mit „Reflexionen und Prognosen“, die wesentliche Argumente des „Kapitals“ noch einmal zusammenfassen, wobei der Autor auch auf Fragen des zweiten und dritten Bandes verweist. Hier zeigt sich, dass es Harvey nicht nur um eine rein wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theorie geht, sondern dass ihm linke politische Praxis am Herzen liegt. Marx zeige uns, so Harvey, „dass wir trotz aller Unsicherheiten nie darauf verzichten können, aktiv zu werden“ (S. 377). Klassenpolitik bleibe relevant, wobei Klassenfragen niemals ohne Rücksicht auf andere Kategorien wie Geschlecht oder „Rasse“ gedacht werden dürften.

Wer eine präzise Zusammenfassung der drei Bände des „Kapitals“ sucht, sollte vielleicht besser zu Michael Heinrichs „Kritik der politischen Ökonomie“ greifen. Harveys Buch hingegen ist zugänglicher. Und das ist – trotz aller Mängel – eine grosse Stärke. Zwar kann Harvey die eigene Kapitallektüre auf keinen Fall ersetzen, aber er kann sie vereinfachen und die Hürde, Marx' Hauptwerk im Original zu lesen, herabsetzen. In diesem Sinne sollte man Harveys Schrift in erster Linie als Kommentar zu Marx' Originaltext begreifen: Eine Sekundärlektüre, die darauf abzielt, Kontext und Aktualität des „Kapitals“ deutlich zu machen und die Praxis – trotz aller Theorie – niemals aus den Augen zu verlieren.

Felix Matheis
kritisch-lesen.de

David Harvey: Marx' „Kapital“ lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger. VSA Verlag, Hamburg 2011. 390 Seiten, ca. 12.00 SFr, ISBN 9783899654158

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