Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle Berthold Seliger: Klassikkampf

Sachliteratur

22. Juni 2018

Klassische Musik und linke Politik mögen auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Das Gegenteil ist der Fall.

Gustav Mahler, 1892.
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Gustav Mahler, 1892. Foto: E. Bieber (PD)

22. Juni 2018
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„Tradition“, soll Gustav Mahler einmal gesagt haben, „ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche“. Diesem Motto dürfte sich der Musikagent Berthold Seliger verpflichtet haben. Mit seinem neuen Buch blickt er erfrischend dialektisch auf klassische Musik im 21. Jahrhundert. „Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle“ ist dabei vor allem eines: inspirierend.

Genrefremden macht Seliger den Einstieg nicht erst durch seine unprätentiöse Sprache so einfach wie nur irgend möglich. Jedes Musikstück, das auf den kommenden 453 Seiten Erwähnung finden wird, hat er mit einem (meistens funktionierenden) Youtube-Link versehen und parallel zum Buch hat Seliger eine „Klassikkampf“-Playlist auf spotify zusammengestellt, „in der die Werke (soweit verfügbar) in der Reihenfolge zu hören sind, in der sie im Text vorkommen“. Der Buchtitel ist damit Programm: „Bildung und Kultur für alle“ wird durch die barrierefreie Hörbarkeit zum performativen Akt. Seligers Verlinkungen senken die Einstiegshürden in etwas so (vermeintlich) Elitäres und Forderndes wie ernste Musik enorm. Denn Revolution und klassische – Seliger nennt sie durchweg „ernste“ – Musik wieder zu verbinden, um Musik als Trägerin revolutionärer Ideen an die Menschen zu bringen, ist zentrales Anliegen und das Argument des Buches.

Klassik als Ware

Seliger brandmarkt die gegenwärtigen Institutionen klassischer Musik als „zum Ritual erstarrt, verflacht und elitär“. Schon lange sei klassische Musik nur noch Teil bürgerlicher Distinktion und Imagepflege (etwa der Automobilkonzerne und Banken, die Opern, Philharmonien und Festspiele sponsern und ausrichten). Das erste grosse Kapitel von vieren ist eine einzige tour de force durch den Musikbetrieb: Vom elitären „Silbermeer“ grauhaariger, aber immer nur das Gleiche verlangender Operngänger_innen über die sich stromlinienförmig auf Karriere trimmenden Geiger_innen und Dirigenten (gelernte Dirigentinnen stossen immer noch an eine gläserne Karrieredecke) bis hin zu den Betreibenden und Sponsor_innen der grossen Spielhäuser werden für „Klassikkampf“ alle Verstrickungen mit den falschen Verhältnissen ans Licht gebracht. Der Blick auf die Klassikbranche ist mit Seligers Augen ein Blick in die kapitalistische Sphäre; Klassik als Ware, Musizieren als Arbeitskraft und Interpret_in-Sein als Warenform: „Die Marketingaktivitäten der Klassikindustrie haben alles zum Produkt gemacht. Sie machen Interpreten zu Interpreten-Darstellern“ (S. 99).

Herrlich originelle Statistiken und Seligers Insider-Branchenwissen verhindern dabei zu jeder Zeit, dass seine musikkritische Argumentation zu einem Gemeinplatz linken Denkens wird: der schon in tausend Varianten gelesenen und auch von Seliger vorausgesetzten Kritik an „der Kulturindustrie“. Der Autor wertet nicht nur aus, welche Grosskonzerne welche Philharmonien zu welchen Teilen bezahlt haben (und wie viel mehr jedes Mal die Bürger_innen einer Stadt beigesteuert haben, nur um durch überhöhte Eintrittspreise doch den Zugang faktisch verwehrt zu bekommen). Ebenso beleuchtet er, welche „immergleichen Stücke, nämlich Peter und der Wolf von Prokofjew […], The Simple Symphony von Britten […], Orffs Carmina Burana […] sowie Werke von Sibelius […] und Gema-Ahnherr Richard Strauss [ja, DIE Gema, die Geschichte dahinter ist gruselig, Anm. K.G.]“ (S. 58) deutschlandweit gespielt werden.

Er widmet sich auch dem „allgegenwärtigen und ausgeprägten Sexismus“ der Klassikbranche (S. 94), wenn er etwa aufzeigt, wie oft und viel Haut Geigerinnen zeigen (und zeigen müssen), um ihre leider ebenso oberflächlichen Interpretationen per sexy Plattencover an die erregte Kundschaft zu bringen. Er zeigt, wie sich Programmlänge und -aufbau der Sinfoniekonzerte in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte verkürzt und verflacht haben; und anhand der wiederkehrenden Auswahl der Stücke toter weisser deutscher Komponisten für Konzertprogramme und CD-Compilations geisselt er den patriarchalen Eurozentrismus des Klassikbetriebs.

Bei ihm kommen kritische Stimmen wie die von Patricia Kopatchinskaja oder Carolin Widmann zu Wort und die verstorbenen „Dissidenten der Kulturindustrie“ (S. 108), wie Friedrich Gulda, Beethoven, Mahler oder auch Lou Reed (denn nicht nur „klassische“ Musik nimmt Seliger „ernst“), beschreibt er mit inspirierender Lebendigkeit:

„Was Benedetti Michelangeli, Gulda, Carlos Kleiber und Patricia Kopatchinskaja bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam haben, ist ihr unbedingter Respekt gegenüber den Werken, die sie spielen, die Radikalität ihrer Interpretationen, bei denen es ihnen ums Ganze geht (genauso, wie sie selbst jedes Mal aufs Ganze gehen) und das Angewidertsein vom Betrieb“ (S. 143).

Konsequent dialektisch

Die Lektüre wird über die originellen Zahlen und den Vielklang an klassischer Musik über die Zeiten und Europa hinweg aber erst wirklich stark, weil Seliger zumeist konsequent dialektisch denkt. Die Kritik an der Klassik erhärtet er nämlich stets durch die Kritik der Klassik. Den status quo torpediert er vor allem mit sich selbst, mit der Subversion und den emanzipativen Versprechen, für die ernste Musik einmal eintrat, jederzeit eintreten könnte und zukünftig eintreten sollte:

„Ernste Musik will kein Bestseller werden. Ihr ist die Widerständigkeit und das Utopische eingebrannt, also das, was die Menschen suchen, mitunter auch, ohne es zu wissen, das ihnen aber die Produkte der Kulturindustrie niemals gegeben können“ (S. 218).

Seliger hält am künstlerischen Wert ernster Musik fest; angelehnt an Adornos Kunstbegriff zeigt er durchweg argumentstark auf, dass ernster Musik ein Moment des Nicht-Identischen, des Unversöhnlichen mit den gegebenen Verhältnissen innewohnt, und dass diese Klang-Erfahrung prägend für jedermann und jederfrau sein kann.

Im dritten Kapitel kommt er auf die erzieherischen Bedingungen zu sprechen, die es uns ermöglichen, ernste Musik zu erfahren. Hierfür betrachtet er sich ebenso dialektisch das Bildungswesen; einmal als klassenreproduzierende Struktur für Unter- und Oberschichten, im gleichen Atemzug aber auch als potenziellen Ermöglichungsort für diese ersten und kritischen Erfahrungen mit ernster Musik. Gerade in Zusammenhang mit dem vorher entwickelten Plädoyer für ernste Musik bekommt man eine Ahnung, was es heisst, eine_n mit Leidenschaft und Wissen lehrende_n Musiklehrer_in zu haben, wie ihn zum Beispiel Carolin Emcke gehabt haben muss und wie sie ihren Herrn Kossarinsky respektvoll im Buch „Wie wir begehren“ beschreibt. Musik-Erfahrungen, wie sie Emcke autobiografisch aufrollt, erfahren durch Seliger ihre theoretisierte Blaupause.

Die Grenze zwischen Unterhaltungsmusik und ernster Musik

Dass Seligers „Klassikkampf“ auf der Theorie-Ebene aber nicht über Gutes und Bekanntes hinausgeht, zeigt nicht erst das Kapitel über Bildung. Adorno und Horkheimer, Benjamin, Rancière und Badiou finden sinnvollen Eingang in Seligers Argumentstruktur, über sie geht er jedoch zu keinem Zeitpunkt hinaus. Sie sind die Stichwortgeber jener Thesen, die man als gegeben annehmen muss: „Neoliberalismus“, „Kulturindustrie“ und „Bourgeoisie“ muss als Vokabeln annehmen, wer dem Gedankengang des Buches folgen will. Das ist nicht schlimm, die meisten der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte alten Begriffe drängen sich in der Betrachtung des Klassikbetriebs geradezu auf.

Doch manchmal wird's dann doch etwas holprig, wenn Seliger begriffliche Stärke für polemische Zuspitzung fallen lässt, um von einer „outer class“ zu schreiben, einer prekarisierten Gesellschaftsgruppe, die nur bei (s)einem engen (aber legitimen) Kultur- und Politikverständnis „ausserhalb der Gesellschaft“ (S. 344) sein kann. In Hinblick auf die Teilhabe an kulturellem Kapital versteht man hier zumindest intuitiv, auf was Seliger hinaus will und warum der Begriff als Kampfbegriff wichtig ist. Schade um die lange Argumentation wird es, wenn Seliger die Unterscheidung von U(nterhaltungs)- und E(rnster) Musik erkenntnis- und speziell musiktheoretisch nicht aufrechthalten kann und will. Allein aus strategischen Gründen plädiert er aber doch für die Trennung:

„Wer hat Interesse an der ‚Überwindung' der Grenze wischen E- und U-Musik? Also an der Gleichmacherei aller Musik […]? Wer hat Interesse an der Dominanz der Unterhaltungsmusik und einer Eventkultur, die ausschliesslich unter dem Aspekt ihrer Konsumierbarkeit betrieben wird?“ (S. 209)

Es mag stimmen, dass ernste Musik, wenn sie als juristisch-ökonomische Kategorie aufhörte zu existieren, es wesentlich schwerer hätte, staatlich gefördert und gehört zu werden. Aber der simple Backlash lässt Lesende reichlich unbefriedigt zurück. Verwöhnt vom Einfallsreichtum der ersten Buchhälfte erwartet man sich eine gewitztere Lösung des bekannten U- und E-Problems als diese unsinnige Gegenüberstellung praktisch aufrechtzuerhalten. Theoretisch wirklich arg wird es dann, wenn Seliger von „Neofeudalismus“ schreibt, ohne neue Feudalherren auszumachen. Für Seliger war der neue Feudalismus bereits erreicht, als die Musik sich statt dem Adel dem Markt unterwarf. Was Neofeudalismus dann von Kapitalismus oder Neoliberalismus begrifflich unterscheiden soll, bleibt völlig unklar.

Klassik und Bildung

Auch Seligers Kritik am deutschen Bildungswesen sinkt notwendig ab im Vergleich zum hervorragend recherchierten und zusammengetragenen Kampf gegen den Klassikbetrieb in der ersten Buchhälfte. Sein Beispiel über Lobbyismus durch Schulmaterial, die von Konzernen wie Apple oder Amazon bereitgestellt werden, ist zwar immer noch wichtig, die augenöffnenden Momente lichten sich im Bildungskapitel jedoch. Wenn Seliger dann zu einem Forderungskatalog ausholt, um die Geisteswissenschaften an Schule und Universität zu rehabilitieren, wirken diese elf Punkte zumeist gleichermassen idealistisch-altbekannt und blass.

Nur an manchen Stellen schafft Seliger es – dann aber sehr einleuchtend – Bildung und ernste Musik konkret zu verzahnen: Es bleibt nicht bei einer so abstrakten wie längst gehörten Forderung nach neu geregelten Eintrittspreisen für jugendliche Besucher_innen klassischer Konzerte. Nein, das Beispiel des „Cleveland Orchestras“ zeige, wie deren neue Ticketstruktur erfolgreich junges Publikum anziehen konnte. Oder später das Beispiel des venezolanischen Musikförderprogramms „El Sistema“! Seit 1975 leistet „El Sistema“ integrative Sozialarbeit, indem es Kinder- und Jugendorchester in stark benachteiligten Regionen des Landes aufbaut, um Kinder kostenlos mit Unterricht und Instrumenten zu versorgen.

Spätestens an diesen Beispielen zeigt sich, dass sich all die „klassischen“ linken Kampf-Themen in jeder gesellschaftlichen Sphäre, also auch in der klassischen Musik, niederschlagen: Prekarisierung, Neoliberalisierung, Interkulturalität und Integration: Eben weil dieses Thema „Klassische Musik im 21. Jahrhundert“ einerseits ein wenig abseitig und altbacken erscheint, durch Seliger aber sofort an Brisanz, Aktualität und Leidenschaft gewinnt, hat der Autor den Finger am Puls der Zeit. Berthold Seliger ist gleichzeitig gegen und für die alten Werke, gegen und für Beethoven und Co., gegen und für Bildung, gegen und für Klassik. Gegen das, was ist, und für das, was sein könnte.

Kevin Grünstein
kritisch-lesen.de

Berthold Seliger: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 496 Seiten, ca. 28.00 SFr. ISBN 9783957574671

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