Antifa Gençlik: Eine Dokumentation (1988-1994) Bildet Jugendbanden!

Sachliteratur

16. November 2017

Die Dokumentation über eine wichtige antifaschistische Bewegung verbindet Zeugnis mit Visionen für antifaschistische Politik.

Eingangsgebäude des Berliner S- und U-Bahnhofes Neukölln.
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Eingangsgebäude des Berliner S- und U-Bahnhofes Neukölln. Foto: Jcornelius (CC BY-SA 3.0 cropped)

16. November 2017
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Fünf Jahre existierte sie, die Antifasist Gençlik (AG), ein Zusammenschluss mehrheitlich migrantischer– zumeist türkischer oder kurdischer – junger AntifaschistInnen in Berlin und anderen Städten. 1989 in der damals noch geteilten Hauptstadt von Antifa-Gruppen aus Kreuzberg, Neukölln und dem Wedding zusammengeschlossen, trat die Antifa Gençlik an, auf die von Ausgrenzung und Rassismus gekennzeichnete Situation von MigrantInnen der 2. und 3. Generation aufmerksam zu machen und sich gegen den erstarkenden Nationalismus der deutschen Gesellschaft sowie gegen Angriffe deutscher Nazis und Faschisten zu stellen. Antifa Gençlik war ein längst überfälliges Projekt, das sich rasch zu einer kraftvollen Bewegung entwickelte und leider viel zu früh durch interne Streits, Probleme mit „deutschen“ Linken und institutionelle Repression zerbarst.

Der Dokumentationsband versammelt originale Artikel der Gruppe, die damals in einem Beiblatt des Antifa Infoblattes unter dem Titel Antifasist Haber Bülteni erschienen sowie Flugblätter und Interviews. Vor allem sind hier aber auch Texte veröffentlicht, die nach der Auflösung der Gruppe erstellt wurden und ausführliche Reflexionen enthalten – die wohl interessantesten Stücke des Buches. Die Kritik und Selbstkritik aus der Feder einiger Gruppenmitglieder mögen auch heute noch anregend für antifaschistische Politiken sein.

Eine Generation in der Identitätskrise

Die Lebenssituation der in Deutschland lebenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeichnete sich in den 1980ern durch mehrere Identitätskrisen aus. Während die Eltern, die in den 60ern als „GastarbeiterInnen“ gekommen waren, ihren Aufenthalt in Deutschland meist immer noch als vorübergehend begriffen, wuchs die zweite Generation zwischen den Stühlen heran. Die Elterngeneration, stark bezogen auf ihre eigene Community und deren Traditionen, organisierte sich auch politisch eher in Hinblick auf ihr Herkunftsland.

Ihre Söhne und Töchter wuchsen anders auf und entwickelten andere Gewohnheiten, andere Leidenschaften, vor allem aber andere Umgangsweisen mit sozialen Problemen: „Wir fühlen uns anders als unsere Eltern: Die Stadt ist auch unsere Heimat, wir sind keine AusländerInnen, wir wollen die gleichen Rechte wie die Deutschen und dafür werden wir auch kämpfen“ (S. 97). Aus dieser Identitätskrise, dieser „Spaltung zwischen den Generationen“ (S. 13), entwickelte sich, vor allem durch das Erstarken nationalistischer und rassistischer Kräfte zur Zeit der Wiedervereinigung, bei den Jugendlichen der Drang, ihre unmittelbare Situation, die sich auf ihr Leben in Deutschland bezog zu verändern und ihren Selbstschutz in Jugendbanden zu organisieren.

Vorwiegend, um sich den Nazis entgegen stellen zu können, weniger als organisierte Antifa. Dieses Vakuum erkannte eine migrantische Antifagruppe aus Kreuzberg und schloss sich mit anderen linken türkischen Gruppen zusammen zur Antifa Gençlik. Die AktivistInnen sahen es als ihre Aufgabe, die Jugendbanden zu einen und zu politisieren. Sie sollten nicht nur den Nazi als Feind erkennen, sondern die deutsche kapitalistische Gesellschaft mit ihren Regeln und Gesetzen:

„Wir können nicht mehr zuschauen, wie sich jugendliche ImmigrantInnen in Banden gegenseitig bekriegen und kriminalisiert werden. Unsere antifaschistische Arbeit [an anderer Stelle wird von der Arbeit eines Sozialarbeiters gesprochen] sollte den Jugendlichen eine Basis bieten, auf der sich ihr Identitätsprozess leichter vollzieht“ (S 129).

Schnell entstand eine kraftvolle militante Bewegung:

„Wir wollen die unbewusste Reaktion zu einer bewussten und organisierten Reaktion machen und haben deshalb den Schritt getan, eine Antifa-Jugendgruppe zu gründen. Wir glauben, dass sich in der BRD der Faschismus zunehmend verstärken wird. Und wir glauben aber auch, sogar sehr fest, dies verhindern zu können. Dies ist aber nur möglich in einer stabilen militanten Volksbewegung“ (S. 95).

Die Kriminalisierung durch Polizei und Verfassungsschutz liess entsprechend nicht lange auf sich warten. Auseinandersetzungen

In der AG wurde viel diskutiert, publiziert und auf die Strasse gegangen. Schnell entwickelte sich eine Bewegung, die auch von der deutschen Linken ernst genommen wurde (wenn teils auch unter falschen Vorzeichen, wie sich später herausstellen sollte).

In ihren Texten diskutierte die AG ihre gesellschaftliche Analyse von der Situation migrantischer Jugendlicher, der Situation von Frauen und Sexismus in den eigenen Reihen, von den „Ausländergesetzen“ und den Entrechtungen, beispielsweise durch das nicht zugestandene Wahlrecht. Vor allem aber lag ein Schwerpunkt auf der Kritik der faschistischen Gesellschaft. Die Kapitalisten trieben in Zeiten der ökonomischen Krise, so heisst es, einen ideologischen Keil in die ArbeiterInnenschaft, um diese zu spalten und gegeneinander aufzubringen. Diese Spaltungslinie befinde sich zwischen den „deutschen“ und den „ausländischen“ ArbeiterInnen, die nun statt gegen die Kapitalisten aufzubegehren sich gegenseitig angriffen. Das ideologische Futter werde zudem von den Faschisten gefressen und treibe sie zu Angriffen gegen die „Ausländer“.

Nun mag ein solcher Faschismusbegriff den Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts ordentlich verwässern und das Kind der Arbeiterspaltung (zum Beispiel durch Überausbeutung von MigrantInnen) nicht beim richtigen Namen nennen. Sich der Gefahr des drohenden Faschismus gegenüber zu sehen, spiegelt aber die Stimmung der früher 90er Jahre zwischen Wiedervereinigung, Nationalismusrausch und den permanenten Angriffen auf Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund wider. Wie in fast allen dokumentierten Texten ist die Forderung formuliert, die aus diesen Umständen resultiert:

„Wir müssen mit Ehrgeiz versuchen, […] im Klassendenken den Kampf zu entwickeln. Wir müssen die revolutionäre Klassenideologie der Arbeiter und den internationalen Geist bei den Massen verbreiten, um die Zuneigung der Massen zum Nationalismus zu neutralisieren“ (S. 24).

Ein jähes Ende

Als Gerhard Kaindl, organisiert in der rechtsextremen Landesliga der Deutschen Liga für Volk und Heimat im April 1992 den Stichverletzungen erlag, die ihm bei einer Auseinandersetzung mit Jugendlichen zugeführt wurden, überzog eine Verdachts- und Repressionswelle die AG. Es erfolgten Verhöre und Festnahmen, Leute tauchten unter, wurden aus den eigenen Reihen heraus belastet. Die AG zerbrach. Der Stachel in den Augen des Staatsschutzes war schnell gezogen, darauf hatten die Organe ja seit Beginn hin gearbeitet. Den Schrecken und die Wut darüber bekommt man vor allem in den Texten zu fassen, die nach der Auflösung '94 verfasst wurden. Hier wird zunächst dokumentiert, in welchem gesellschaftlichen Klima die AG sich fand, und was ihr Anliegen war:

„Die ImmigrantInnen sollten ihr hinnehmendes und passives Verhalten ändern und durch die AG selbstbewusster agieren, um so die deutsche „Ausländerpolitik“ zum Scheitern zu bringen. Damit würden wir den „deutschen Herren“ eine grosse Überraschung bereiten, aber leider ist es uns nicht gelungen“ (S. 122).

Dieses Scheitern wird schliesslich durch vielerlei Gründe erklärt: Interne Konflikte wurden nicht vernünftig ausgetragen und die ersten Zersplitterungen fanden schon früh statt. Für Reflexionen gab es zu dieser Zeit keinen Platz. Ausserdem wurde oft unüberlegt militant gehandelt, ohne Rücksicht auf andere involvierte Gruppen. Der Anspruch einer jugendlichen politisierten Selbstorganisation ging nach eigenen Aussagen zu oft unter und fand schlicht als „kurzsichtige 'militante' antifaschistische Arbeit“ (S. 131) statt. Warnungen, wie gefährlich diese Arbeit sein kann, wurden nicht ernst genommen und so setzten sich viele Mitglieder starken Spannungen aus. Trotz der gehaltvollen Analysen und Publikationen schien die AG im Nachhinein nicht fähig, ihre Theorie in die Praxis zu übersetzen, beziehungsweise mehr Jugendliche für diese Auseinandersetzung zu begeistern. Dafür mögen viele Probleme zu unmittelbar gewesen sein.

Ein grosser Kritikpunkt geht an Teile der deutschen (antifaschistischen) Linken. Diese habe zwar die Zusammenarbeit mit der AG sehr offen begrüsst, sie aber benutzt, um sich damit selbst zu dekorieren. Schliesslich mündete dies in einer dogmatischen „Wir das Hirn, ihr die Muskeln“-Haltung, in der Entscheidungen ohne Rücksicht auf AG gefällt wurden: „Es bildete sich ein Widerspruch […] heraus, denn neben dem Willen, die ImmigrantInnen bei ihrer Selbstorganisierung und Emanzipation zu ermutigen, hatten sie zugleich auch Angst, dass diese einen 'falschen Weg' einschlagen könnten“ (S. 138). Daher das Plädoyer der AG: Die Organisation erfolgt zuerst in den migrantischen Mikrostrukturen, wo jedeR seine oder ihre Belange am besten kennt. Eine Vernetzung mit anderen, die als sehr wichtig erachtet wird, findet statt, wenn alle einer gemeinsamen Programmatik zustimmen. Und diese sieht nicht die Integration von ImmigrantInnen vor, sondern leistet emanzipatorische Arbeit für die Gesellschaft, „die es nötig hat, verändert zu werden“ (S. 140).

Das Buch hat manchmal seine Längen, da sich inhaltlich vieles wiederholt. Vor allem der zweite Teil aber wird sehr interessant, wenn es um die Selbstkritik und die Kritik an der deutschen Linken geht. Insgesamt hätte jedoch nach all der Kritik ein bisschen der Blick nach vorne gut getan. Denn dass die AG ein wichtiges Beispiel deutscher antifaschistischer Geschichte ist, an dem sich viel Gutes ablesen lässt, ist unbestreitbar. Insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit von migrantischen und nicht-migrantischen Linken lässt sich aus diesem Buch einiges mitnehmen. Schade ist es aber, dass an diese Publikation nicht genutzt wurde, um, an die AG anschliessende, migrantische und internationalistische Antifa-Organisationen in der BRD zumindest grob zu benennen und heute und gestern miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Transferleistung obliegt den LeserInnen allein.

Andrea Strübe
kritisch-lesen.de

ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988-1994). Unrast Verlag, Münster 2014. 164 Seiten, ca. 14.00 SFr, ISBN 978-3-89771-566-0

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