Andreas Kemper/Heike Weinbach: Klassismus - Eine Einführung Antiklassistische Perspektiven

Sachliteratur

Das Buch ermöglicht Zugänge zu Klassismus-Konzepten. Eine Re-Lektüre mit Vorschlägen für linken Antiklassismus.

Andreas Kemper: Klassismus.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Andreas Kemper: Klassismus. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

21. April 2016
2
0
10 min.
Drucken
Korrektur
Bereits vor 7 Jahren erschien der Einführungsband „Klassismus“ von Andreas Kemper und Heike Weinbach. Die Perspektiven des Konzepts brachten so manche Steine bei mir ins Rollen. Die neuerliche Lektüre soll dazu genutzt werden, um Ausgangspunkte für linke Klassismus-Analysen vorzuschlagen. Zunächst aber einführende Erläuterungen zu Buch und Begriff.

Klassismus

Der Begriff Klassismus ist im deutschsprachigen Raum kaum bekannt – ganz anders in den USA: Die Lesbengruppe „The Furies“ etwa verwendeten den Begriff erstmals in den 1970ern in ihren Texten, um als Arbeiter_innentöchter ihre soziale Herkunft zu thematisieren. Marxistische Ansätze, die den Klassenwiderspruch zum Hauptwiderspruch deklarierten und somit etwa Sexismus und Rassismus nur als Unterkategorien betrachteten, lieferten für die Aktivist_innen auf viele Fragen nur unbefriedigende Antworten. Die Schriftstellerin Rita Mae Brown wird bei Kemper/Weinbach dazu passend zitiert:

„Klasse bedeutet weit mehr als die marxistische Definition von Beziehungen im Spiegel der Produktionsverhältnisse. Klasse schliesst dein Verhalten, und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; wie du gelernt hast, dich zu verhalten; was du von dir und anderen erwarten darfst; deine Idee von der Zukunft; wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst, handelst.“ (Brown, zit.n. S. 36)

Das Klassismus-Konzept weist darauf hin, dass die Klassengesellschaft nicht nur über die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse produziert wird. Es findet auch eine Reproduktion statt. Dennoch bleibt die Position einer sozialen Gruppe im Produktionsprozess der Ausgangspunkt für Klassismus, es wird diese Position aber nicht alleinig hinsichtlich der ökonomischen Stellung betrachtet, denn „Klasse“ wird auch über Ideologien, Vorstellungen und Handlungen vermittelt. Folglich begreifen Kemper/Weinbach mit Maurianne Adams, Lee Anne Bell und Pat Griffin Klassismus als das „institutionelle, kulturelle und individuelle Repertoire an Praxen und Vorstellungen, durch die Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen ökonomischen Status ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird; dies im Kontext eines ökonomischen Systems, durch das massive Ungleichheit bis hin zu Armut produziert wird“ (S. 15).

Ausführlich zitieren Kemper/Weinbach auch aus dem „Handbook of Nonviolent Action“, in dem es heisst, dass Klassismus „eine Art und Weise [ist], Menschen klein zu halten – damit ist gemeint, dass Menschen aus der höheren Klasse und reiche Menschen definieren, was ‚normal' oder ‚akzeptiert' ist“ (S. 16f). Diese Normen werden nicht nur „von oben“ auferlegt, sondern ständig diskursiv reproduziert. Es wird etwa unterstellt, Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss, geringerer Entlohnung, langen Lohnarbeitszeiten (oder gar Menschen ohne Zugang zu Lohnarbeit) hätten ihre Chancen nicht richtig genutzt da sie „zu faul“, „zu dumm“, „zu bequem“, „zu ungebildet“ bzw. „zu unqualifiziert“ seien.

Diese auf Leistungsideologie fussenden Zuschreibungen sind notwendig, um die materielle Ungleichheit aufrecht zu erhalten. Oder wie Kemper/Weinbach auf den Punkt bringen: „Ohne Ideologien und Strukturen der Macht und Herrschaft keine ausbeuterische Verfügung über die Arbeitskraft von Menschen.“ (S. 19)

Ideologische Strukturen

Kemper und Weinbach machen fünf ideologische Strukturen aus, über die Klassismus Anwendung findet:

- Ähnlich wie bei anderen Unterdrückungsformen werde häufig naturalisiert. Thilo Sarrazin belegte das in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ eindrucksvoll. Er behauptet etwa, dass „menschliche Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist“ (Sarrazin 2010, S. 93). Da Betroffene sozialer Ungleichheit weniger intelligent seien, jedoch mehr Kinder als Intelligente bekämen, werde Deutschland immer dümmer. In Deutschland bekommen also die „Falschen“ Kinder. Durch die Reduktion auf angebliche Naturgesetze werden soziale Probleme entpolitisiert und dadurch emanzipatorisches gesellschaftliches Handeln eingeschränkt.

- Denselben Zweck erfüllt die Kulturalisierung. Hier werden die sozialen Widersprüche jedoch nicht auf „Natur“ zurückgeführt, sondern auf „Kulturen“ bezogen (die jedoch häufig als unveränderlich angesehen werden). Kemper/Weinbach verweisen auf das Gerede der „Neuen Unterschicht“, der eine „ungesunde Kultur“ zugeschrieben wird, die sich am Massstab einer „bürgerlichen Leitkultur“ orientieren sollte.

- Ein besonders effektives Werkzeug für (Re-)Produktion klassistischer Diskurse ist die Sprache. Umgangssprachlich gibt es zahlreiche abwertende Begriffe wie „Proll“, „Prolet“, „Sozialschmarotzer“ oder „White Trash“.

- Weitaus subtiler funktionieren konstruierte Hierarchien zwischen „oben“ und „unten“, die besonders bei den Begriffen „Oberschicht“ und „Unterschicht“ deutlich werden. Besonders einfallsreich erscheinen Neologismen wie „Unterschichtenfernsehen“ und „unterprivilegiert“.

- Eine beinahe klassisch klassistische ideologische Struktur ist die institutionelle. Laut Kemper/Weinbach gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, keine Institution, die nicht auch klassistisch geprägt ist. Allein die Organisation der Arbeit, in der die Akkumulation eines kapitalistischen Unternehmens vor allem durch die Arbeitskraft der Lohnarbeiter_innen erwirtschaftet wird, stellt an sich eine klassistische Institutionalisierung dar. Dieser Aspekt wird im vorliegenden Buch jedoch wenig beleuchtet, wohl auch, weil die Autor_innen in diesem Zusammenhang einwenden, dass „bislang die Klassenunterdrückung zu sehr auf den Aspekt der ökonomischen Klassenausbeutung reduziert [wurde]. Klassenausbeutung ist jedoch nur ein Aspekt des Klassismus“ (S. 30). Kemper/Weinbach vernachlässigen in ihrer Darstellung der ideologischen Strukturen die Leistungsideologie, mittels der im Sinne von „Jeder ist seines Glückes Schmied“ Ungleichheit individualisiert wird.

Nach der scharf skizzierten Einführung folgen bei Kemper/Weinbach Kapitel über verschiedene US-amerikanische Theorien, historische Widerstandskulturen und Verbindungen zur Psychoanalyse. Sehr anschaulich ist die Betrachtung der Unterdrückungsform Klassismus im Lichte aktueller „umstrittener Felder“ im letzten und ausführlichsten Teil. Klassismus in öffentlichen Diskussionen werde demnach beispielsweise in den Themenfeldern Bildung, Arbeit und Zusammenleben sichtbar.

Debatten über die „sexuelle Verwahrlosung der Unterschicht“ oder „arbeitsscheue“ Hartz IV-Empfänger_innen, die sich nur ein bequemes Leben machen wollten, belegen klassistische Diskurse. Besonders deutlich wird der hiesige Klassismus im Bildungsbereich. Nicht nur die Definitionsmacht über die Bildungskultur seitens der „bürgerlichen Mittelklasse“, sondern auch die Bildungsschwellen haben unterdrückende Wirkung. Bei den Fragen, ab wann ein Kind reif für die Einschulung ist, welche Schulformempfehlung es erhält, ob und wo es dann eventuell einen Ausbildungsplatz bekommt oder studieren kann, überall warten „Gatekeeper“.

Hürden

Das Buch eignet sich nach wie vor hervorragend als Einführung in die Diskussionen um Klassismus. Insbesondere die Darstellung der US-amerikanischen Debatten und der „umstrittenen Felder“ dürfte für manche Leser_innen Denkräume eröffnen. Darum ist das Buch auch trotz einigen vernachlässigten Themen und Erläuterungen zu empfehlen.

Es ist den Autor_innen Andreas Kemper und Heike Weinbach für die kompakte und schlüssige Darstellung der Diskussionen zu danken. Ihre Einführung ist wichtig, denn noch immer scheint es in linken Zusammenhängen kaum Auseinandersetzungen um die Strukturkategorie Klasse zu geben. Während in antisexistischen und antirassistischen Auseinandersetzungen zurecht auf die Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen durch Diskurse, Handlungen und Institutionen hingewiesen wird, steht das in Bezug auf Klasse weitgehend noch aus. Das betrifft vor allem auch Auseinandersetzungen innerhalb linker Zusammenhänge, in denen sich häufig aus Mittelstandperspektiven klassistischer Deutungen bedient wird. Ein Aspekt, der von hiesigen Aktivist_innen nur sehr selten aufgegriffen wird. (In Schweden wurde diese Thematik vor einigen Jahren diskutiert – Gabriel Kuhn (2009) machte mit einer empfehlenswerten Broschüre diese Debatte für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich).

Ein Hindernis für eine Auseinandersetzung mit Klassismus besteht darin, dass diejenigen, die sich eher „traditionsmarxistischer“ Zugänge bedienen, Diskussionen um Reproduktionen fern von ökonomischen Begründungszusammenhängen eher abgeneigt sind. Gleichzeitig scheinen aber auch vor dem Hintergrund jahrzehntelanger (und immer noch andauernden) notwendiger Kämpfe gegen ökonomischen Reduktionismus („Hauptwiderspruchsthese“) zu wenig mit der Reproduktion von Klasse auseinandersetzen zu wollen. Lange Zeit musste dafür gekämpft werden, auch Rassismus und Sexismus auf die Agenda linker Politik zu setzen – vielleicht zu lange, um sich Klasse wieder vermehrt zuzuwenden, wenn auch aus einer anderen (antiklassistischen) Perspektive.

Es gibt jedoch auch Hindernisse für die Befassung mit Klassismus, die sich aus missverständlichen und problematischen Positionen in Klassismus-Konzepten ergeben. Es lohnt sich, diesen Aspekt genauer zu beleuchten. Dabei sollen aber nicht die Kritiken im Zentrum stehen, sondern – positiv gewendet – Ausgangspunkte für linke Klassismusanalysen vorgeschlagen werden: Einerseits sollten antiklassistische Perspektiven nicht blosse Anerkennungs- und Antidiskriminierungskämpfe schlagen, andererseits ist das Zusammendenken von anderen Unterdrückungsformen notwendig.

Antikapitalismus statt nur Lobbyarbeit

Der Perspektivenwechsel, der sich durch das Klassismus-Konzept ergibt, sollte nicht dazu führen, dass Klasse nur noch hinsichtlich der Reproduktion analysiert wird. Die Aufrechterhaltung von Klassenunterdrückung ist nicht von der Reproduktion durch Institutionen, Diskurse und Handlungen zu trennen, aber sie ist zugleich Grundlage des Kapitalismus. Ohne Antikapitalismus ist daher Antiklassismus nicht zu haben. Peter Nowak wies kürzlich in einer Rezension zum vorliegenden Buch auf die Gefahr hin, das Klassismus-Konzept lediglich als Kampf für Anerkennung zu verstehen. Er schrieb dazu:

„Wer unter Klassismus den Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation versteht, strebt, wie die Furies, eine Änderung dieser Verhältnisse an. Wer unter Klassismus hingegen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen versteht, muss nichts dagegen haben, dass Menschen arm und beispielsweise gezwungen sind, Flaschen zu sammeln. Nur sollten das bitte auch alle respektieren. Aus einem Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Macht in einer Gesellschaft wird die Sorge, dass auch diejenigen, die wenig oder keine Ressourcen haben, respektiert werden sollen.“ (Nowak 2011)

Antiklassismus darf also nicht als blosse Lobbyarbeit verstanden werden, sondern muss auch das System in Frage stellen und bekämpfen, das Klassismus hervorbringt. Es geht ebenso wenig nur um Anerkennung, wie es nur um Diskriminierung geht.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Es ist richtig darauf hinzuweisen, dass sich das Gerede um Leistungsgesellschaft als ein Phantasma darstellt. Michael Hartmann (2002) hat das in seiner Studie vom „Mythos der Leistungseliten“ hinreichend belegt. Wir leben nicht in einer „Leistungsgesellschaft“, es entscheidet nicht die „Leistung“, wer was verdient, sondern unter anderem die soziale Herkunft. Das muss kritisiert werden. Doch wie? Sollte eine „echte“ Leistungsgesellschaft gefordert werden, in der niemand mehr wegen der sozialen Herkunft diskriminiert wird? Bei dieser Forderung darf antiklassistische Politik nicht stehen bleiben, denn auch wenn wir „real“ in einer Leistungsgesellschaft leben würden, Gewinner und Verlierer würden weiterhin produziert werden – diejenigen, die im Sinne der Leistungsgesellschaft nicht genügend „leisten“. Wird also kapitalistische Logik nicht ebenso bekämpft, fällt antiklassistische Kritik in das wesentlich von sozialdemokratischer Seite geschaufelte Loch der Leistungsideologie.

Allein durch Lobby-Arbeit werden die Widersprüche zwischen Produktionsmittel-Inhaber_innen, Arbeitskräften und Angestellten sicher nicht aufgehoben werden. Einem kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystem ist die Herausbildung von ökonomischer Differenz verschiedener sozialer Gruppen inhärent. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das heisst natürlich nicht, dass Kämpfe gegen Diskriminierung keine Berechtigung hätten, nur unverbunden mit grundlegender Kritik können sie letztlich kontraproduktiv wirken.

Reflexion verschiedener Unterdrückungsformen

Eine Auseinandersetzung mit Klassismus setzt ebenso wie die mit anderen Unterdrückungsstrukturen voraus, dass nicht im Sinne einer Diskriminierungshierarchie die eine Unterdrückungsform gegen die andere ausgespielt wird, sondern diese zusammengedacht werden: Klassismus, Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen greifen ineinander, bedingen und stützen sich gegenseitig. Das bedarf jedoch einer Sensibilität für eigene Verstrickungen in Unterdrückungsstrukturen. Ich habe zwar als Arbeiterkind „aus dem Osten“ an süddeutschen Schulen auch gewisse Erfahrungen und Hintergründe mit Klassismus, darf aber nicht übersehen, dass ich als weisser Mann in rassistischen und sexistischen Strukturen verstrickt bin.

Ich profitiere vom Patriarchat und von rassistischen Strukturen und halte sie somit auch aufrecht. Die privilegierten Positionen aufgrund patriarchaler und weisser Normen sind bei den Analysen und Handlungen unbedingt mit einzubeziehen. Hier kann viel von feministischen Debatten gelernt werden. Insbesondere die Auseinandersetzungen in den 1970er und 1980er Jahren um die Verstrickungen von weissen Frauen aus dem „Mittelstand“ eröffnen Perspektiven. Die Aktivistin und Literaturwissenschaftlerin bell hooks schrieb dazu bereits 1981:

"Der Prozess beginnt damit, dass wir Frauen als Individuen die rassistische, klassistische und sexistische Sozialisierung anerkennen, der alle amerikanischen Frauen ausgesetzt sind. Dies gilt ohne Ausnahme, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung. Zudem müssen wir anerkennen, dass es nicht ausreicht, uns als 'Feministinnen' zu bezeichnen, sondern dass wir bewusst daran arbeiten müssen, uns von der Last negativer Sozialisierung zu befreien." (hooks 1981)

Andreas Kemper und Heike Weinbach liefern für die Auseinandersetzung um Klasse reichlich Anstösse. Mit dem Stein, der dadurch ins Rollen kommen könnte, sollte jedoch behutsam umgegangen werden – sonst verfehlt er das Ziel. Damit das nicht geschieht, sollte Antiklassismus nicht von Antikapitalismus gelöst werden und zugleich andere Unterdrückungsformen einbezogen werden.

Sebastian Friedrich
kritisch-lesen.de

Andreas Kemper / Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung. Unrast, Münster 2009. 188 Seiten, ca. 18.00 SFr, ISBN 978-3-89771-467-0

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.