Von den anarchistischischen Anfängen bis Dada Die Avantgarde und die Revolutionierung des Alltags

Sachliteratur

Anarchistische Bohémiens wie Jules Vallès, Stéphane Mallarmé, Félix Fénéon bereiteten im Paris des 19. Jahrhunderts mit ihrem Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft den Boden für Dada. Dieser entstand schliesslich 1916 in Zürich, in Auflehnung und Wut gegen das blutrünstige Europa des Ersten Weltkriegs.

Der französische Schriftsteller Stéphane Mallarmé zwischen 1895-96 in der Rue de Rome 89, Paris.
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Der französische Schriftsteller Stéphane Mallarmé zwischen 1895-96 in der Rue de Rome 89, Paris. Foto: Anonymous (PD)

24. März 2016
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Die Revolte dieser ersten Generation von AvantgardistInnen, grösstenteils Kriegsflüchtlinge, war zuerst gegen die eigene, korrumpierbare Sprache und gegen die Institution Kunst gerichtet. Doch nicht nur die DadaistInnen wollten nichts mehr mit einer gesellschaftlichen Ordnung zu tun haben, die Weltkriege provoziert.

So kam es zu mehreren Revolutionen, von denen sich eine hat durchsetzen können, nämlich jene in Russland. Diese sollte der nächsten Avantgarde-Generation – den SurrealistInnen – ganz neue Möglichkeiten von Antikunst eröffnen, um revolutionäre und emanzipatorische Ziele zu verfolgen sowie Kunst und Lebenspraxis zusammenzuführen. Vor einigen Monaten erschien Alexander Emanuelys Buch „Avantgarde I“ im Schmetterling-Verlag. Untertitel:

„Von den anarchistischischen Anfängen bis Dada oder wider eine begriffliche Beliebigkeit“. Mit dem Autor sprach KeinOrt.

KeinOrt: Hallo Alexander. Du hast in der Theorie.org Reihe des Schmetterling Verlag ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Avantgarde I. Von den anarchistischen Anfängen bis Dada oder wider eine begriffliche Beliebigkeit“. Die Reihe will „zentrale Themen linker Debatten“ (Einband) aufarbeiten, dazu willst du mit dem Band einen Beitrag leisten. Was ist das politische an der Avantgarde?

Alexander Emanuely: Für mich liegt das Politische in der Avantgarde in ihrem revolutionären Streben. Für die Entwicklung der Avantgarde von Dada, über den Surrealismus, bis hin zum Lettrismus und zu den SituationistInnen war der Anarchismus des 19. Jahrhunderts prägend. Auch waren von Félix Fénéon, Arthur Cravan, André Breton bis Guy Debord Menschen am Werk, die auf ähnliche und gleichzeitig komplett unterschiedliche Art und Weise versucht haben Kunst und Lebenspraxis zusammen zu führen. Sie wollten das Affirmative in Kultur und Kunst auflösen, eben u.a. durch das Schaffen von dem, was als Antikunst bezeichnet wird. Weiters sollten den Bedürfnissen, Träumen und Wünschen eines jeden Menschen zum Durchbruch verholfen werden. Dieser Durchbruch war eine der Säulen, eine der Bedingungen der angestrebten Revolution. Man wandte verschiedene neue, alte Techniken aus Kunst und Psychoanalyse an: die Collage, die Entfremdung, das automatische Schreiben, das Flanieren…

KeinOrt: Was waren die politischen Leitbilder der Avantgarde?

Alexander Emanuely: Manche AvantgardistInnen orientierten sich in den 1920er-Jahren an der erfolgreichen Oktoberrevolution, dann an Stalin, andere an Trotzki, doch der Kern der AvantgardistInnen blieb beim Anarchismus, bzw. kehrte nach einem enttäuschenden Intermezzo – meist in der Kommunistischen Partei – zu diesem zurück.

Zum revolutionären Handeln kommt hinzu, dass die meisten AvantgardistInnen im besten Alter waren, als Faschismus und Nationalsozialismus europaweit an die Macht kamen und mordeten. Und zwar im besten Alter, um Widerstand zu leisten. Der Beitrag der alten und jungen DadaistInnen und SurrealistInnen, der zukünftigen LettristInnen an der Résistance war ein bedeutender. Zum Beispiel André Breton. Er wetterte schon gegen Hitler, setzte sich schon für deutsche Flüchtlinge in Frankreich ein, da verstanden die allermeisten seiner ZeitgenossInnen noch nicht, was sich da zusammen braute. Die Liste der WiderstandskämpferInnen ist lang, es seien hier Claude Cahun, Asger Jorn, Benjamin Péret, Robert Rius erwähnt.

Dazu gehören auch jene jungen Pariser Nachwuchs-SurrealistInnen, Jahrgang 1920, die sich 1940 allesamt in den allerersten, eher dilettantisch organisierten Widerstandszellen wiedergefunden hatten. Viele von ihnen sind in diesem Kampf umgekommen. Sie hatten Karl Marx, Charles Fourier, aber eben auch die Gedichte Arthur Rimbauds gelesen. Und sie hatten André Breton gelesen, der unter anderem geschrieben hat: „'Die Welt verändern', hat Marx gesagt; ‚das Leben ändern', hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.“ Dieser Satz drückt wohl am Besten das Politische, das Revolutionäre an der Avantgarde aus.

Dies alles stimmt natürlich nicht – oder nur teilweise – für all jene, die in der Avantgarde nur das sich Aufbäumen junger, wilder KünstlerInnen gegen ältere, etablierte KünstlerInnen sehen wollen. U.a. gegen diese, weit verbreitete Definition des Begriffs Avantgarde habe ich dieses Buch geschrieben.

KeinOrt: Dass die KünstlerInnen „den Bedürfnissen, Träumen und Wünschen eines jeden Menschen zum Durchbruch“ verhelfen wollten, ist in deinem Buch schön und ausführlich festgehalten. Ebenso die Empörung über eine Welt, welche all dies den Menschen verweigert, beispielhaft in dem von dir zitierten Spruch von Max Ernst: „Dada war ein Ausbruch einer Revolte der Absurdität, der grossen Schweinerei dieses blödsinnigen Krieges. Wir jungen Leute kamen wie betäubt aus dem Krieg zurück, und unsere Empörung musste sich irgendwie Luft machen“ (159) – interessant ist vor allem aber wie das Zitat weitergeht: „Dies geschah ganz natürlich mit Angriffen auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbei geführt hatte. Angriffen auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur, Malerei usw.“ (159). Warum ist für die Avantgarde ausgerechnet die Bekämpfung der Syntax die Konsequenz aus dem grossen Abschlachten, das die imperialistischen Staaten im Ersten Weltkrieg angerichtet haben?

Alexander Emanuely: Die Sprache als Instrument der Herrschaft war eines der Angriffsziele. Ich denke, dass die ersten Dada-Abende, an denen Lautgedichte zu hören waren, eher spontan zustande gekommen sind. Dann kam noch was dazu: So am 23. Juni 1916, als Hugo Ball ein Lautgedicht vortrug und dazu im Magierkostüm eine spontane Performance gab. Simsalabim et voilà, improvisierte, nur für den Moment gemachte Kunst, etwas Rituelles ohne Ritual. Und es handelte sich ja beim Cabaret Voltaire um ein Kabarett, also um einen Ort, wo Kritik und Humor Hand in Hand gehen. Und wodurch wird Kritik und Humor in diesem Kontext zum Ausdruck gebracht? Durch Sprach- und Bühnenspiel.

Diese Kabarett-Tradition geht auf eine Entwicklung zurück, die sich ab den 1880er-Jahren in Paris entwickelt hat, Stichwort Le Chat Noir, die schwarze Katze, wohl das erste Kabarett dieser Art. Dort fand man dann die Hydropathen und Zutisten, SprachspielerInnen, die einen Arthur Rimbaud geformt haben, und von dort kamen die Fumisten, die ErfinderInnen von überhaupt allem. Das Kabarett wurde einer der zentralen Orte der Widerständigkeit gegen die bürgerliche Ordnung und Moral, auch weil es dank der Meinungsfreiheit nur schwer von Polizei und Justiz angetastet werden konnte. Es folgten dann vor dem Ersten Weltkrieg ähnliche Institutionen in ganz Europa, wie die 11 Scharfrichter in München. Und gerade in diesen Kabarett-Kreisen tummelten sich Menschen herum, die dem Anarchismus sehr nahe standen, ob in Frankreich Félix Fénéon, Alfred Jarry oder in Deutschland Erich Mühsam.

Die KünstlerInnen in Zürich, die 1916 Dada zum Leben erweckt haben, kamen aus dieser Tradition. Aus dieser Tradition kam aber auch die Erkenntnis, dass mit der bürgerlichen Sprache, der bürgerlichen darstellenden und bildenden Kunst, so frei sie sich auch gab, weder die sozialen Ungerechtigkeiten, noch der Weltkrieg zu verhindern gewesen waren. Nicht einmal ein Mallarmé, ein Ibsen, ein Seurat hatten die Welt retten können. Von der Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit, der Empörung, die Max Ernst anspricht, hin zur Spracherneuerung, Fassungserneuerung, Revolution bedurfte es scheinbar nur einen kleinen Schritt, einen kurzen Moment in der Spiegelgasse in Zürich – aber natürlich nicht nur dort.

KeinOrt: Was änderte sich, als das Zentrum Dadas von Zürich nach Paris wechselte?

Alexander Emanuely: Was die DadaistInnen in Zürich angefangen haben, haben die Pariser DadaistInnen, die späteren SurrealistInnen, nach dem Weltkrieg fortgesetzt. Sie haben dazu noch die Erkenntnisse aus Psychoanalyse ins Spiel gebracht. Sie wollten durch Formenzerstörung von Sprache – und die Syntax ist eben ein sehr wichtiges Korsett – von Bild und Ton die eigene Normiertheit und die der anderen auflösen, damit jeder Mensch sich im Sinne der Revolution neu formen, neu definieren kann, ganz unabhängig davon, was ihm von klein auf vermittelt worden ist. Konkret auf den Weltkrieg und seine Folgen bezogen: Das patriotische Geheul der Herrschenden und der Angepassten sollte durch das Dada-Geheul, aus dem Innersten des Geistes kommend, übertönt, ertränkt werden. Und es waren die Methoden der Kunst und bald der Psychoanalyse, aber auch des Spiels, welche das Innerste des Geistes, wo die Bedürfnisse und Triebe vergraben liegen, wecken sollten.

Doch dieses Wecken-wollen alleine hätte nicht gereicht, um eine Bewegung zu schaffen, um Avantgarde möglich zu machen. Es musste zeitgleich, in Form der Oktoberrevolution, ein ganz anderes Erwachen erfolgen, jenes der Gewissheit, und zu diesem Zeitpunkt war es keine Hoffnung, sondern eben eine Gewissheit, dass die Menschheit sich tatsächlich nicht nur ganz anders organisieren kann (das wusste man schon seit der Pariser Kommune) sondern, dass sich dieses Neue, diese sozialistische Gesellschaft auch halten und durchsetzen kann.

KeinOrt: Diese Meinungsfreiheit, die nur schwer von Polizei und Justiz angetastet werden konnte, als Mittel zur Umgehung der Zensur erwähnst du auch in deinem Buch (107). Heute umgehen Musiker wie KIZ mit einem künstlerischen Ausdruck nicht mehr die Zensur, sondern die Irrelevanz der Linksradikalen, um z.B. Statements gegen den Nationalismus in die Öffentlichkeit zu tragen. Bei KIZ fragen sich viele, ob das unpolitische Publikum zwischen all den Provokationen mit chauvinistischen Frauenbildern und derben Humor tatsächlich die politischen Anspielungen versteht. Hier drängen sich Parallelen zur Avantgarde auf: Wurde hier mehr gemacht, als mit der Geste des Revolutionärs gespielt, um „[d]as Provozieren des Publikums durch die Negation“ (153) zu betreiben? Du schreibst z.B. von Benjamin Pérets Aufritt als deutscher Soldat, der die Franzosen 1919 schwer empörte (174). Ist das eine Form der politischen Agitation oder ist es auch deswegen von Staatswegen erlaubt gewesen, weil es über die Provokation hinaus dem nationalistischen Taumel der Franzosen nichts entgegensetze – also harmlos war, wie heute KIZ?

Alexander Emanuely: Was Provokation heute und anno 1919 betrifft, wäre zuerst festzuhalten, dass ich wie Adorno denke, wenn er schreibt, dass nach der „europäischen Katastrophe“, nach Auschwitz die Schocks der Surrealisten kraftlos geworden sind.

Und was weiters auf 1919 im Unterschied zu heute zutrifft, ist, dass die linken Intellektuellen damals, die sich gegen die bürgerliche Ordnung auflehnten, begriffen, bzw. gedacht haben, dass sie nicht alleine sind, dass es nun die Sowjetunion und eine bald starke KP gibt. Somit reagierte auch die bekämpfte Ordnung immer strenger gegen diese Provokationen und nicht selten wurden KünstlerInnen verklagt, verwarnt etc. Aber es sollte gerade einmal 20 Jahre brauchen, bis der nationalistische Taumel der französischen Mittelschicht vor dem deutschen Faschismus kapitulieren, ihn teilweise sogar begrüssen wird. 1939 hingegen finden wir Benjamin Péret als ehemaligen Spanienkämpfer (zuerst bei der POUM, dann in der Kolonne Durruti) in Paris wieder. Und er ist immer noch Surrealist, bald aber auch in der Résistance, dann im Exil.

Ich habe mich jetzt nicht mit KIZ im Besonderen beschäftigt, und vielleicht gibt es Ähnlichkeiten in der Arbeit der Band mit den Methoden der Avantgarde. Es gibt viele KünstlerInnen, die nach den SituationistInnen versucht haben, zu schockieren, zu provozieren. Doch ohne Revolution kann es keine Avantgarde geben. Selbst die provokanteste Kunst wird im Sinne Herbert Marcuse affirmativ und somit – für die Polizei in diesem Falle – harmlos. Die Avantgarde wollte die Revolutionierung des Alltags, Provokation war nur ein, wenn auch oft benützter Weg von vielen, um dorthin kommen zu können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: keinOrt

Alexander Emanuely: Avantgarde I. Von den anarchistischen Anfängen bis Dada. Schmetterling Verlag 2015. 200 Seiten. ca. 14.00 SFr, ISBN 3-89657-680-1