Der literarische Kampf für soziale Gerechtigkeit Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel

Belletristik

Die vierzigseitige Erzählung gehörte damals einer völlig neuen, modernen Erzähltradition an und hat bis heute nichts an ihrer Faszination und Aktualität eingebüsst.

Der deutsche Dichter Gerhard Hauptmann und Gattin mit dem kleinen Wundergeiger. Der 11-jährige Ruggiero Ricci spielt zum erstenmal vor einem grossen Publikum in der Philharmonie in Berlin.
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Der deutsche Dichter Gerhard Hauptmann und Gattin mit dem kleinen Wundergeiger. Der 11-jährige Ruggiero Ricci spielt zum erstenmal vor einem grossen Publikum in der Philharmonie in Berlin. Foto: image_author

7. Dezember 1996
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Korrektur
Gerhart Hauptmann, der wohl grösste deutsche Naturalist, gewährt dem Leser einen schauerlichen Einblick in die Schattenseiten der menschlichen Psyche.

Thiel arbeitet als Bahnwärter an einem verlassenen Ort mitten im Walde, wo er gewissenhaft die Barrieren runterlässt und wieder hochzieht, obwohl oft tagelang kein Mensch von seinen Diensten Gebrauch macht. Nach dem Tod seiner ersten Frau, Minna, heiratet Thiel erneut, wie er sagt, zum Besten seines Sohnes aus erster Ehe, welcher eher schwächlicher Natur ist und Pflege braucht.

Der Unterschied zwischen Minna und Lene könnte nicht grösser sein: Minnas Zartheit, ihre zerbrechliche, ruhige, ja gar demütige Art steht der Bodenständigkeit, dem starken, leidenschaftlichen Wesen seiner zweiten Frau gegenüber. Obwohl die äusserliche "herkulische" Gestalt Thiels auf eine robuste Natur schliessen lassen, ist er "trotz seiner sehnigen Arme nicht der Mann", der ihre Herrschsucht in die Schranken weisen könnte. Immer bewusster wird Thiel die Diskrepanz zwischen der durchgeistigten Minna und der triebhaften Lene.

Er beginnt, seine erste Frau zu idealisieren, zu mystifizieren, sein Wärterhäuschen in der Abgeschiedenheit wird zur Minna geweihten Stätte, ein Kult, vergleichbar mit demjenigen um Maria stellt sich ein.

Streng voneinander getrennt hält Thiel die Territorien seiner beiden Frauen. Als Bindeglied zwischen sich und der Verstorbenen entwickelt er eine grosse Zuneigung zu Tobias, ihrem gemeinsamen Sohn. In zunehmendem Masse beginnt Lene ihren Stiefsohn zu hassen.

Als erdgebundene Person kann sie Tobias' Bedeutung für Thiel nicht nachvollziehen, spürt jedoch, dass zwischen ihr und ihrem Mann etwas liegt, ein undefinierbares, unüberwindbares Etwas, welches sie in ihrer eigenen Familie von etwas Grundlegendem ausschliesst. Ihre Abneigung nimmt noch zu, als sie selbst ein Kind zur Welt bringt.

Während geraumer Zeit gelingt es Thiel, die beiden Pole strikte auseinanderzuhalten und zwischen seiner geistig-reinen und der, in seinen Augen fleischlich-beschmutzten Welt hin- und herzupendeln. In der Einsamkeit seines Wärterhäuschens gerät er zuweilen in ekstatische Zustände, dass er Visionen von Minna hat. Dass Lene zuhause seinen Tobias misshandelt, will er lange nicht wahrhaben, selbst als er Augenzeuge ihrer Brutalität wird, scheint er ungerührt. Doch unterschwellig brodelt es. Mit kleinen Symbolen gibt Hauptmann zu verstehen, dass Thiel von einer immer stärker werdenden Unruhe heimgesucht wird.

Seine Visionen werden immer grauenvoller, Traum und Wirklichkeit vermischen sich. Besonders in den naturalistischen Beschreibungen werden diese Phänomene der Wahrnehmungsveränderungen auf eindrückliche Weise deutlich.

"Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel."

Die Lage spitzt sich zu, als Thiel Lene einlädt, einen Acker in der Nähe des Wärterhäuschens zu bearbeiten. Lene betritt geheiligtes Land. Doch Thiel selbst war es, der den Vorschlag machte. Tobias wird von einem Zug überfahren. Wohl war es die Unachtsamkeit Lenes, welche den Unfall ermöglichte. Für Thiel jedoch, dessen Ekel vor Lene sich parallel zur zunehmenden Verehrung für Minna steigerte, hat Lene seinen geliebten Sohn umgebracht. Sie ist schuld. An allem. Thiel rächt sich. Oder vielmehr: Er rächt Minna. Und Tobias.

Gerhart Hauptmann mit Ehefrau.

Bild: Gerhart Hauptmann mit Ehefrau. / Bundesarchiv, Bild 102-14016 (CC BY-SA 3.0)

Heute würde man ihn wohl als Amokläufer bezeichnen. Das tragische Ende, die Ermordung von Frau und Kind, sowie Thiels Wahnsinn wird absehbar. Nicht, dass es dadurch an Schrecken verlieren würde, aber der Leser begegnet dem Doppelmord auch nicht mit Verständnislosigkeit.

Zu tief hat Thiel sich in seine eigene Schuldhaftigkeit verstrickt. Zu schmerzlich ward ihm bewusst, dass sein ganzes, von Trieben gelenktes Wesen, welches ihn in eine Abhängigkeit von Lene stürzte, so schädlich von Minnas beinahe jungfräulicher, tugendhafter Aura abfiel.

In seiner Erzählung verzichtet Hauptmann weitgehend auf die Schilderung von Gedanken und beschränkt sich auf die Beschreibung von Thiels veränderter, seinem inneren Zustand angepassten Naturwahrnehmung.

Nichts wirkt platt oder abgedroschen, jedes Detail verbindet sich zu einem feinen Netz, einem assoziativen Ganzen, unergründlich für den rationalen Menschen, intuitiv hingegen wohlbekannt. Schon der alte Fontane schrieb über Hauptmann: "Er darf aushalten auf dem Felde, das er gewählt hat, [...], denn er hat nicht bloss den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut und zu dem rechten Mute die rechte Kunst. Es ist töricht, in naturalistischen Derbheiten immer Kunstlosigkeit zu vermuten. Im Gegenteil, richtig angewandt [...], sind sie ein Beweis höchster Kunst."

Er sollte recht behalten. Hauptmanns Bestreben, den Menschen als von Erbe und Umwelt bestimmt und den Gewalten in seinem Innern ausgeliefert, darzustellen, machte ihn zu einem der wichtigsten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. Seine Dramen und Erzählungen sind allesamt Meisterwerke; sowohl sein literarischer Kampf für soziale Gerechtigkeit als auch seine erzählerischen Gratwanderungen über den Abgründen der menschlichen Seele zeugen davon.

Kathrin M.

Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novelle. Reclam Stuttgart, 2001. 62 Seiten, 7 SFr, ISBN 978-3150066171