Die Einsamkeit verwüstet, die Geselligkeit bedrückt Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe

Belletristik

"Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden! Wie ermüdend, das Objekt emotionaler Belastungen eines anderen zu sein!

Plastik von Fernando Pessoa in der Deutschen Schule in Lissabon.
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Plastik von Fernando Pessoa in der Deutschen Schule in Lissabon. Foto: Karl-Eckhard Carius, Vechta (CC BY 3.0 cropped)

25. November 2011
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Sich, wenn man sich frei, immer frei hat sehen wollen, mit einem Mal die Last der Verantwortung aufzubürden, Gefühle zu erwidern und so anständig zu sein, sich nicht zu entziehen, damit nur ja keiner auf den Gedanken kommt, man sei ein Prinz in Sachen Emotion und weise zugleich das Höchste zurück, das eine menschliche Seele zu geben vermag. Wie ermüdend, unsere Existenz ganz und gar abhängig zu sehen von der Gefühlsbeziehung zu einem anderen Menschen! Wie ermüdend, gezwungenermassen ebenfalls ein bisschen lieben zu müssen, wenn auch ohne die volle Erwiderung!"

Depressive und existentialisistische Dialektik bestimmen den Alltag des Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, das Alter Ego des grossen portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa. Dieser Herr Soares arbeitet als Hilfsbuchhalter in einem grossen Kaufmannsbetrieb. Tag für Tag verlässt er seine bescheidene Wohnung und kämpft sich durch die mit Leben gefüllten Strassen der Unterstadt von Lissabon zu seinem Arbeitsplatz.

Er betritt sein Büro, begibt sich an sein Stehpult und trägt mit stoischer Routine in Schönschrift Zahlenkolonnen ins Hauptbuch ein. Nebenbei stellt er sich vor, wie viel Poesie zwischen ihnen Platz hätte. Bernardo Soares ist ein unauffälliger Mann in mittleren Jahren, der sein Auskommen hat. Seine einzige Leidenschaft ist die Liebe zur Literatur:

"Um verstehen zu können, habe ich mich zerstört. Verstehen heisst das Lieben vergessen. ... Die Einsamkeit verwüstet mich; die Geselligkeit bedrückt mich. Die Gegenwart einer anderen Person wirft meine Gedanken aus der Bahn; ich träume von ihrer Gegenwart mit einer besonderen Zerstreutheit, die meine analytische Aufmerksamkeit nicht zu definieren vermag."

Er hasst das Büro, weil es ihn vom Schreiben abhält, er liebt es, weil er sich hier sicher fühlt vor seinen ungewöhnlichen Träumen und Phantasien. Die immer gleichen Gesichter und die Stille des Raums vermitteln diesem unruhigen Geist so etwas wie Ruhe… Der Dichter selbst arbeitete als Handelskorrespondent. Er lebte bescheiden und zurückgezogen, nutzte jede freie Minute zum Schreiben. Zu Lebzeiten war er nur von wenigen Freunden als Dichter geschätzt und anerkannt.Die meisten seiner Manuskripte landeten unveröffentlicht in einer Truhe. Als er 1935 starb, umfasste sein Werk über 24.000 Fragmente.

Lange nach seinem Tod wurde besagte Truhe gefunden und ihr Inhalt zum Teil veröffentlicht. 'Das Buch der Unruhe' entstand zwischen 1913 und 1934. Es ist kein Roman im üblichen Sinn, sondern setzt sich aus Gedankensplittern, Prosafragmenten und Aphorismen zusammen. Daher ist es eher als ein Schreib- und Denktagebuch anzusehen. Pessoa schlüpfte darin in die Häute seiner Protagonisten, was ihm ermöglichte, völlig konträre Sichtweisen zu vermitteln. Er sah sich als "Nervenmaschine", die wie ein Seismograph auch die feinsten Empfindungen registrieren und mitteilen wollte. Nie war er ein sanfter Erzähler, immer ein nüchterner Beobachter.

Ein Buch, das einen begleiten wird, das beunruhigt und zugleich fasziniert. Ein Werk für ein ganzes Leben.

V.A.

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe. Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 300 S., 12.90 SFr, ISBN 978-3250250005