Über Elias Canettis Drama «Die Befristeten» No alarms and no surprises

Belletristik

Zehn muss gar nichts und darf alles; Zwölf ist ein sanftes Wesen, das alle Dinge auf eindringliche Art betrachtet. Zwanziger und Dreissiger führen ein verantwortungsloses Leben, während Vierziger und Fünfziger zur Nachdenklichkeit neigen. Achtundachtziger hingegen sind hart und herzlos, weil sie die meisten ihrer Mitmenschen zwangsläufig überleben werden ...

Elias Canetti.
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Elias Canetti. Foto: Dutch National Archives (CC BY-SA 3.0 cropped)

24. April 2013
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Manchmal muss man eben lügen, um einer Wahrheit zu ihrem vollen Ausdruck zu verhelfen: dass wir unser Leben nämlich vom Tode her führen. Mit den Befristeten hat Canetti eigentlich kein Drama, sondern ein phantastisches Gedankenexperiment über die Bedeutung der Sterblichkeit in Dialogform geschrieben: Die Menschen heissen wie die Zahl ihrer Lebensjahre. Der Augenblick ihres Todes ist ihnen bekannt. Sie sterben genau zu dem Zeitpunkt, der in einer versiegelten Kapsel festgehalten ist; jedem Neugeborenen wird sie wie ein Kruzifix um den Hals gelegt.

Nur der Kapselan, der über die genaue Einhaltung des ungleich verteilten Lebenskapitals aller Menschen Buch führt, vermag sie am Lebensende zu öffnen. Vorzeitiges Sterben oder eine kleine Zugabe an Leben gibt es in der Diktatur des letzten Augenblicks nicht. Auf dieser absoluten Gewissheit des eintretenden Todes begründet sich der Kontrakt dieser statischen Gesellschaft. Sie trennt die neue von der alten Zeit, in der die Menschen noch in Unsicherheit und Angst bezüglich ihres letzten Atemzugs lebten. Nun aber steht man "so sicher auf seinen Jahren wie auf seinen Beinen." (S. 8)

Über die eigene Lebensdauer verfügt man folglich wie über Geld oder Besitz: nichts, weder Krankheit, Mord noch tödlicher Zufall können den Befristeten etwas anhaben; sie sitzen wie in einem Gefängnis ihrer einmal über sie verhängten Lebenszeit. Wer dieses Todesurteil über sie letztendlich vollstreckt hat, bleibt im Dunklen und obwohl sich somit keine rationale Erklärung angesichts der ungleich verteilten Lebensdauer finden lässt, gilt jede Klage als politisch verdächtig. Man soll doch mit dem zufrieden sein, was man hat, anstatt Missstimmung unter die Menschen zu tragen!

Entscheidend ist in Canettis Stück, dass sich unter diesen neuen Voraussetzungen die Tabuisierung des Todes auf das Alter verschoben hat. Zwar wird jedem sterblichen Wesen, sobald dieses denken und sprechen kann, von der Mutter die Spanne der eigenen Lebensjahre mitgeteilt, doch darf man dieses grösste Geheimnis auf keinen Fall preisgeben. Es ist unantastbar.

Niemand spricht über sein wirkliches Alter oder will das eines anderen erfahren. Nachfragen gilt als indiskret. Das Todesalter ist im Eigennamen angezeigt, aber nur man selbst kann sich dazu ins rechte Verhältnis setzen. Indem jeder sein Alter vor dem anderen verheimlicht, hat er die Freiheit, sein Leben genau so einteilen zu können, wie er es für richtig hält. So kann man auf angenehmste Weise mit und an den anderen vorbei leben (nicht zufällig geht die sich anbahnende Revolution von zwei Freunden aus, deren Beziehung immer tiefere menschliche Dimensionen gewinnt).

Die Einschätzung des Alters stellt in einem politischen System, in dem jeder den anderen über die eigenen Lebensverhältnisse im Unklaren lässt, die wichtigste Ressource der Sozialphantasie dar: Die besten Psychologen können das Verhalten der Mitmenschen, ihre Absichten und Ziele am besten durchschauen und für ihre eigenen Zwecke fruchtbar machen (dies geht soweit, dass sich ein Mann immer wieder mit "niederen" Frauen - also Zwanzigern und Dreissigern - verlobt, die ihm nach und nach wegsterben). Die Persönlichkeit eines Menschen ist also nicht mehr durch seine gemachten Erfahrungen zu erklären, sondern lässt sich ganz einfach anhand seines Namens ablesen (dieses Mal fungieren die Namen als "Akustische Maske", wie der Autor selbst gegenüber Hans Hollmann bemerkt hat, und ersetzen die eigentümliche Sprechweise, die sonst Canettis Figuren auszeichnen). Das Verhältnis, das jemand zum Leben hat, ergibt sich somit aus seinem Verhältnis zum Tod.

Canettis Stück hat mich auf eine ganz eigentümliche und tiefe Weise berührt. Es zeigt nicht nur, wie fundierend dieses Todesverhältnis für das gegenwärtige Leben eigentlich ist, sondern auf welche Weise die menschlichen Beziehungen überhaupt von der Unsterblichkeitshypothese abhängen (gerade an den Stellen, wo Canetti Liebende sprechen lässt, wird dies besonders deutlich). Denn auch wenn wir sicherlich wissen, dass wir alle sterben werden, verhalten wir uns doch stets so, als ob wir diesen Tod auf irgendeine Weise überleben würden. Mit der genauen Kenntnis des Todeszeitpunktes aber wird bei Canetti nicht nur das eigene Leben vergiftet, auch jedes Mitgefühl wird durch diese Vorwegnahme des Todes unterwandert (eine Mutter, die ihr siebenjähriges Kind zu Grabe trägt, sieht keinen Grund zur Trauer, da ja alles mit rechten Dingen zugeht).

Nietzsches Frage, was denn nun schlimmer sei, der Zweifel oder die Gewissheit, scheint Canetti mit seiner Sozialutopie beantwortet zu haben: Es ist gerade die Ungewissheit, die menschliches Handeln und Tun in Bewegung hält, während die absolute (Lebens- und Todes) Gewissheit nur Formen des ungelebten Lebens/gelebten Todes hervorbringt. Es gibt nichts mehr, für das man sich aufs Spiel setzen könnte. Keine Gefahr weit und breit: No alarms and no surprises.

Die Befristeten stellen den Versuch dar, eine nur scheinbar säkularisierte Gesellschaft unter thanatologischen Vorzeichen zu studieren. Im Grunde aber geht es um den Umgang mit dem Unsicheren und Ungefähren. Denn dass selbst diese ungerechte Ordnung des Sterbens auf fatale Weise in eine menschliche (Un)Ordnung überführt worden ist, die das, was sich jeder Kontrolle entzieht, kontrollierbar und das Unverfügbare verfügbar machen will, wird im zweiten Teil des Stücks deutlich, den ich hier nicht vorwegnehmen will. Eine ungeheuerliche Entdeckung wird gemacht, die niemanden unverändert lässt und zu einem grossen Missverständnis führt ... Bei allen Assoziationen, die das 1952 entstandene Stück auslöst, und den vielfältigen Bezügen, die es gerade auch heute ermöglicht, kann es nicht über die Haltung des erklärten Todeshasser Canetti hinwegtäuschen: Ob Zweifel oder Gewissheit - der Tod bleibt für den Menschen unannehmbar. Ihm muss kulturell widersprochen werden.

Wie Gerhard Neumann in dem Sammelband Hüter der Verwandlung schreibt, stellt die Literatur - als Sieg über den Tod und freies Verfügen über Namen und ihre Identität erzeugende Kraft - das einzig wirksame Instrument für Canetti dar, um den Sündenfall zu widerrufen. Er selbst soll Die Befristeten für sein zentralstes Werk gehalten haben.

M. A. Sieber

Elias Canetti: Die Befristeten. Roman. Hanser Verlag, München 1964. 256 Seiten, ca. 24.00 SFr., ISBN 3-446-13567-7.