David Graeber - Direkte Aktion, Anarchie und direkte Demokratie Die anderen USA

Sachliteratur

David Graeber, zuweilen umstrittener Aktivist der Occupy-Bewegung und Theoretiker einer Bewegung, welche nicht als globalisierungskritisch eingeordnet werden möchte, gibt in einem neuen Buch einen beeindruckenden Einblick in das Innenleben dieses eigenwilligen politischen Kosmos.

David Graeber im Gespräch mit Thiel am 19. September 2014 in New York.
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David Graeber im Gespräch mit Thiel am 19. September 2014 in New York. Foto: mike (CC BY-SA 2.0 cropped)

19. Januar 2014
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Wie ist es hier möglich Versammlungen zu organisieren, bei denen am Ende, möglichst nach dem Konsensprinzip, auch Ergebnisse erzielt werden? Welche Moderationstechniken haben sich dort als praxistauglich erwiesen, die ohne Hierarchien direkte Demokratie ermöglichen und es dennoch möglichst vielen, auch unterschiedlichen Gruppierungen erlaubt, sich in die Geschehnisse einzubringen?

Doch zunächst gibt der Autor seine eigene Interpretation der Begriffe „Anarchie”, „direkte Aktion” und „direkte Demokratie”, wobei er sowohl bei Bakunin als auch bei Sorel (Generalstreik) Anleihen nimmt. Der historische Marxismus sei eher ein theoretischer oder analytischer Diskurs über die revolutionäre Strategie, während der Anarchismus ein ethischer Diskurs über revolutionäre Praxis sei. Er selbst ist Mitglied der militanten Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) und des Direct Action Network (DAN), welches unter anderem im Mittelpunkt des Buches steht.

Aber es wird auch zu exotischen Entwicklungen innerhalb der anarchistischen Szene kritisch Stellung bezogen, etwa der des Primitivismus eines gewissen John Zerzan, der sich in den letzten Jahren immer mehr zu einer feindseligen Haltung gegen die Linke entwickelt hat und jede Form von Repräsentation, bis hin zur Sprache, ablehnt, da die Verhältnisse nur durch eine Rückkehr in die Steinzeit zu überwinden wären.

In Wahrheit sei der Einfluss von Zerzan auf die Bewegungen in den USA aber gering, es seien eher die Medien, die seine Thesen immer wieder aufgriffen. Im Übrigen seien die bevorzugten Theoretiker der US-Linken eindeutig die Situationisten Raoul Vaneigem und Guy Debord, die der avantgardistischen Tradition am nächsten kommen. Hier liefert der Autor die wohl umfassendste und bunteste Ethnografie, die jemals über die Bewegungen in den USA von der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre bis Occupy Wall Street geschrieben wurde. Dies bedeutet, dass sowohl „ethnische“ und geschlechterspezifische als auch Klassenunterschiede Berücksichtigung finden.

Im Kapitel „Treffen, Versammlungen, Konsensfindung“ geht es vor allem um Beobachtungen, welche der Autor als teilnehmender Beobachter des bereits erwähnten DAN in New York City machte. Es wird ausführlich erklärt, wie es funktioniert, wenn mehrere Bezugsgruppen einen „Cluster“ bilden oder wenn Sprecherräte zusammenkommen. Aber auch hier wird nichts verklärt, sondern die Schwierigkeiten dargestellt, ein den ganzen Kontinent umfassendes DAN nach dem überwältigenden Erfolg gegen die WTO im November 1999 in Seattle aufzubauen. Eben deshalb sei es wichtig für grössere Versammlungen, ModeratorInnen zu benennen, Tagesordnungen mit genauem Zeitplan festzulegen und sich auf Regeln für Beifall- beziehungsweise Unmutsbekundungen zu einigen (einige davon haben sich bereits weltweit vereinheitlicht, wie Daumen hoch oder runter, „twinkling“, also mit den Fingern zu winken, um nachdrückliche Zustimmung zu signalisieren).

Wie nebenbei schöpft der Autor aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz aus diesen Bewegungen, es werden am Rande AktivistInnen vorgestellt, die aus unterschiedlichsten Altersgruppen stammen: So etwa Chris, 17 Jahre jung und Punkgitarrist, und Nat, eine siebzigjährige Frau, die lange in marxistischen Gruppen aktiv gewesen war und sich die letzten Jahre in anarchistischen Zusammenhängen betätigt hat. Zur Illustration von Problemdiskussionen werden ganze Wortprotokolle geliefert, etwa dasjenige eines DAN-Plenums in Charas El Bohio (ein einschlägiger Szenetreff in New York), wo es um die Unterstützung eines laufenden Streiks am Museum of Modern Art ging.

Spannend sind solche teilweise langen Exkurse allemal, machen sie doch deutlich, dass das „andere Amerika” real und lebendig ist, von einer Vielfalt und Breite, von der man hierzulande höchstens träumen kann. Erst im Schlusskapitel taxiert Graeber die zum Teil heterogenen Strömungen der US-Linken und kommt zu einem bitteren Resümee der Ausgangsbedingungen:

„In den vergangenen Jahrzehnten haben wir einen ‚Krieg gegen die Armut' zu einem ‚Krieg gegen das Verbrechen' degenerieren sehen, dann einen ‚Krieg gegen Drogen' (der erste, der international ausgeweitet wurde) und schliesslich den ‚Krieg gegen den Terror'. Dieser ist nicht wirklich ein Krieg im traditionellen Sinn, sondern der Versuch, die Logik dieser Kampagne auf den ganzen Globus auszudehnen oder, mit anderen Worten, einen diffusen weltweiten Polizeistaat auszurufen. Er orientiert sich nicht am Modell des Nationalstaats, ebenso wenig, vermute ich, an dem, was Hardt und Negri (2000) als humanitäres Imperium ohne Mittelpunkt beschrieben haben (das wiederum ist derzeit eher ein europäisches Projekt). Der weltweit agierende Polizeistaat soll wohl eher ein Imperium in einem viel älteren Sinne sein, etwa wie Rom in seiner Endzeit, ein Staat, dem jeder die Gefolgschaft erklären musste, selbst Goten und Hunnen, während sie zugleich darauf sannen, ihn zu zerstören“ (S. 312).

Das Misstrauen gegen die teilweise euphorischen Rezensionen in der bürgerlichen Presse von „Schulden“ ist berechtigt, allerdings kann man auch altgewordenen Konservativen nicht vorwerfen, hier ausnahmsweise einmal richtig zu liegen, der Autor kann sie ohnehin nicht beeinflussen. David Graebers neues Buch ist informativ und leicht verständlich geschrieben, ob es als Handbuch dienen kann, wie der Untertitel nahelegt, muss sich erst noch zeigen. Im Anhang befindet sich zumindest ein ausführliches Glossar, welches die US-amerikanischen Begriffe und Organisationen erklärt.

Adi Quarti
kritisch-lesen.de

David Graeber: Direkte Aktion. Edition Nautilus, Hamburg. 2013. 352 Seiten. 34 SFr., ISBN 978-3894017750

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