Thomas Glavinic: Der Kameramörder Das Fernsehen, der Zuschauer und die Schuld

Belletristik

8. November 2016

Eine spannende Kriminalgeschichte, die schonungslos die Skrupellosigkeit des Fernsehens und den paradoxen Voyeurismus seiner Zuschauer thematisiert.

Thomas Glavinic: Der Kameramörder.
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Thomas Glavinic: Der Kameramörder. Foto: Archives New Zealand (CC BY-SA 2.0 cropped)

8. November 2016
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Österreich. Zwei befreundete Paare verbringen die Osterfeiertage auf einem Hof in der idyllischen Steiermark. In „Der Kameramörder“ von Thomas Glavinic aus dem Jahr 2001 wird das geplante Vorhaben der Zerstreuung gleich zu Beginn von einem grausamen Mord durchkreuzt, der sich ganz in der Nähe ereignet hat. Über das Fernsehen erfahren die vier Protagonist_innen, dass ein Mann gesucht wird, der sich auf perfide Art und Weise des Mordes an zwei Kindern schuldig gemacht haben soll. Um die schonungslose Schilderung der Tat noch zuzuspitzen, hat der Täter das Geschehen mit einer Videokamera aufgezeichnet. Die mediale Berichterstattung, die Ausstrahlung des Videos sowie die Fahndung nach dem Täter bestimmen den weiteren Aufenthalt der Urlauber_innen. Einer von ihnen berichtet aus der Ich-Perspektive.

Aus dieser Sicht werden die Leser_innen Zeug_innen eines Kammerspiels, in dem sich alle Beteiligten zwischen Sensationslust und dem vergeblichen Bemühen um eine rationale Distanzierung bewegen. Dabei setzt sich der Roman gnadenlos mit dem vorherrschenden Stil der Inszenierung im Fernsehen auseinander, wenn es darum geht, tragische Schicksale aufzubereiten. Über diesen Weg stellt er geschickt die Auswüchse eines Mediums dar, das sich im ständigen Kampf um die Quote über ethische Ansprüche hinwegsetzt. Skandalisierung und die Emotionalisierung von Ereignissen, bei denen eigentlich eine informative, sachliche Ebene nötig ist, sind nur Bruchteile der Übel, die Glavinic in seiner Erzählung anbringt.

Der homo zappens

In erschreckend wenig lichten Momenten gelingt es den handelnden Personen, ihren Verstand einzusetzen und sich nicht untertänig vom Bildschirm bestimmen zu lassen. Die klare Stärke des Textes liegt in der gleichmässigen Verteilung seiner vernichtenden Darstellung. Diese richtet sich sowohl an das Medium als auch an seine Konsument_innen. Denn nicht nur das Fernsehen macht sich moralisch schuldig, wenn es sensible Ereignisse wie den Mord an zwei Kindern um jeden Preis emotional ausschlachtet.

Nein, die Darstellung der zur Distanz und Kritik unfähigen Protagonist_innen zeigt, wer dafür ebenfalls verantwortlich zu machen ist: die Zuschauenden. Denn irgendjemand muss sich das Ganze ja auch anschauen. Auch wenn dies durch eine stereotype Präsentation der Figuren von panisch-hysterisch über vermeidend bis sachlich-zynisch geschieht und an manchen Stellen eine erzählerische Tiefe vermissen lässt, gelingt hier ein Rundumschlag durch die Wohnzimmer der zum wegzappen geneigten Zuschauer_innen.

Dabei steht die technisch kalte Sprache der emotional aufgeladenen Berichterstattung gegenüber. An manchen Stellen eine Herausforderung an das Lesevergnügen. Jedoch nur eine von vielen anregenden Analogien in Form und Inhalt, in die der Autor hier seine Haltung verpackt. So verzichtet er ebenfalls auf Absätze und Kapitel. Schlägt man das Buch auf, sieht man sich mit einer Flut an Text konfrontiert. Stellen, die zum Absetzen und Innehalten einladen, sucht man vergebens. Und so stehen die Leser_innen dem Text genauso überfordert gegenüber, wie der Flut an medialen Reizen im Informationszeitalter.

Es wird ein düsteres und sicherlich an manchen Stellen überspitztes Bild von der Eigendynamik des Fernsehens und des Zuschauverhaltens gezeichnet. Was in jedem Fall zutrifft, ist, dass ein Grossteil der Fernsehlandschaft die Frage nach dem Zwiespalt zwischen Sensation und Information weder offiziell betont noch stellt. Unter dem Strich haben sie diese im Konkurrenzdruck des Mediengeschäftes jedoch längst beantwortet. Emotion schlägt Inhalt auf bigotte und paradoxe Art und Weise. So untertitelt der Sender, der das vom Täter aufgenommene Mordvideo, nicht ohne auf Werbeunterbrechungen zu verzichten, ausstrahlt: „Dies ist kein Sensationsvideo. Die ist der hilflose Versuch der Aufarbeitung einer Tragödie“ (S. 74).

Und auch die Protagnist_innen haben in ihrer Rolle als Rezipient_innen trotz reflektiert anmutender Wortwechsel ebenfalls eine Entscheidung bezüglich ihres Anspruches getroffen: Unterhaltung statt Aufklärung. Da können auch helle Momente der Gespräche über Nähe und Distanz in der Medienrezeption und über die ethische Verantwortung des Fernsehens, die sich spärlich eingestreut finden lassen, nicht helfen. Sie fühlen sich angezogen, ja fasziniert und mitgerissen von dem, was der Bildschirm erzählt. Bestens versorgt mit allerhand Knabbereien, verfolgen vor allem die beiden männlichen Protagonisten das Geschehen: „Heinrich nahm sich eine Handvoll Chips und sagte, es sei grässlich, der Mann müsse der Teufel persönlich sein“ (S. 75).

Alles Lügenpresse oder was?

Auch über die Szenerie des bauerhöflichen Ferienidylls hinaus schlägt die Tat ihre Wellen. So rottet sich in den umliegenden Ortschaften ein „Mob“ zusammen, der in seiner dumpfen Dynamik wahlweise zur Einführung der Todesstrafe oder zur Stürmung des Senders, der das Tatvideo ausstrahlt, aufruft. Wenn aktuell neue Bewegungen von rechts reaktionäre und populistische Forderung auch als Reaktion auf die Untaten der sogenannten Lügenpresse laut machen, sicherlich ein aktueller Aspekt.

Auch zeigt Glavinic, dass der Vorwurf der Lügenpresse durchaus seine Berechtigung hat. Es hier wird jedoch deutlich, dass dies weniger mit verschwörerischen Mächten im Hintergrund zu tun hat. Denn das Defizit an Information und Objektivität des Fernsehens und das nachzuvollziehende Misstrauen ihm gegenüber liegt, nüchtern betrachtet, im Kampf um Marktanteile durch Aufmerksamkeit begründet. Paradoxerweise haben im Roman diejenigen anscheinend das grösste Bedürfnis nach sensationeller und emotionaler Berichterstattung, die das Fernsehen am lautesten kritisieren.

Die dichte Erzählung entfaltet sich auf lediglich 157 Seiten. In Anbetracht der komplexen Thematik und der Fülle an Ereignissen werden die Leser_innen mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen: Wie sollen Medien von Tragödien berichten? Inwieweit macht sich das Fernsehen durch Emotionalisierung der indirekten Komplizenschaft schuldig? Und gilt das auch für mich als Zuschauer_in? Alles Fragen, die im Kontext der boulevardesken Form von Berichten über Terroranschläge und Amokläufe durchaus ihre Relevanz haben.

Thomas Glavinic legt in seinem Roman „Der Kameramörder“, der 2002 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde, den Finger in viele Wunden der Medienwelt. Auch, wenn seit Erscheinen des Romans nun mehr 14 Jahre vergangen sind und das Internet selbstbestimmtere Möglichkeiten des Medienkonsums ermöglicht: Der Text stellt eine mahnende Erinnerung dar. Anachronistisch ist er dabei nicht. Denn das Fernsehen ist vor allem in älteren Teilen der Gesellschaft Leitmedium Nummer eins. Dabei betreibt er keine einseitige Medienschelte, sondern stellt den einzelnen Zuschauenden sowie die wütenden Massen nicht als Opfer, sondern als Teil des Problems dar.

Für skepsisbegabte Fernsehzuschauer_innen werden hier sicherlich keine neuen Aspekte bezüglich der Verantwortung des Fernsehens und der grassierenden Unfähigkeit der Zuschauer_innen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, geboten. Wer jedoch auf der Suche nach einem kurzweiligen Leseerlebnis ist, das all dies in Form eines spannenden Kriminalromans mit einem intelligenten und fulminanten Finale vereint, kommt sicherlich auf seine Kosten.

Adrian Altmayer
kritisch-lesen.de

Thomas Glavinic: Der Kameramörder. dtv, München 2006. 156 Seiten, ca. 12.00 SFr. ISBN 978-3-423-13546-7

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