SVK: Wir sind Heldinnen Stifte zu Boxhandschuhen

Belletristik

30. September 2018

Ein „Selbstverteidigungskurs mit Worten“ aus Kreuzberg/Berlin hat einen Sammelband an Kurzgeschichten herausgebracht.

Kreuzberg, Berlin, August 2016.
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Kreuzberg, Berlin, August 2016. Foto: O.celebi (CC BY 2.0 cropped)

30. September 2018
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Die Autorinnen sind zehn Mädchen im Alter zwischen sechs und 16 Jahren, die sich damit den Stift zum Boxhandschuh der Wahl gemacht haben: In grösstenteils schriftlichen, mal kürzeren, mal längeren, manchmal bebilderten und fotografierten Erzählungen berichten die Mädchen von ihren Schul- und Freizeiterfahrungen: davon, sich ausgegrenzt und alleine zu fühlen, von Rassismus, aber auch von Freundschaft, Selbst-Empowerment und Solidarität im Klassenzimmer. Ins „Erwachsene“ gehoben sind die wunderbar detailreichen und – darauf wird zurückzukommen sein – entwaffnend naiven Geschichten nur durch ein Interview mit der Gruppenkoordinatorin und einen kurzen dokumentierenden Text zur „dekolonialen Praxis“.

In ihm beleuchtet Olenka Nadia Bordo Benavides die Entstehung der Gruppe und situiert dekoloniale Praxis, „also das Sich-Frei-Machen von gelernten und internalisierten, machtunkritischen und kolonialen Strukturen“ (S. 276), innerhalb pädagogischer Arbeit. So musste gerade sie selbst „sehr oft darüber nachdenken, dass ich als erwachsene Person eine dominante und machtvollere Position als die Mädchen habe, wenn ich etwa versuchte, Sachen zu bestimmen“ (S. 282). Die bewusste Zurückhaltung der älteren Bezugspersonen des schreibenden Selbstverteidigungskurses macht es dankenswerterweise einfach, sich voll und ganz auf die Perspektiven der jungen Autorinnen einzulassen. Denn zwischen den Zeilen warten die ganz und gar nicht kindischen Ängste und Hoffnungen diskriminierter Menschen in der Grossstadt Berlin.

Die Vermessung des Alltags

Im „Linealladen“ von Yana Luisa Weber Bordo beispielsweise folgt man einer zahlenverliebten Schülerin durch einen Alltag, dem sie, angefangen mit Körpergrössen und Lebensalter, omnipräsent den Zahlenstempel aufdrückt. Alles bekommt seine Chiffre, ausser dem zentralen und für die Selbstverwirklichung des Kindes lebensnotwendigen Gegenstand: man erfährt nie, wie lang das Lineal ist, das sie kauft. Denn sie braucht es nicht zum Messen, sondern als Verlängerung ihres eigenen Armes, um endlich, gut sichtbar, ihre eigene Meinung im Klassenraum melden zu können. Bordo forciert diese Interpretation nicht! Wie nebenher kommt den Lesenden die Erkenntnis: Als Mittel zur Selbstkenntlichmachung ist das Lineal von un-messbarem Wert.

In der gleichen Geschichte spricht die junge Protagonistin zunächst ein selbstbewusstes „Hallo!“, das fett gedruckt im Raum steht. Nachdem sie von ihrer Lehrerin auf den Platz verwiesen wird, hört dies wieder auf. Der Fettdruck aus dem Seitenlayout verschwindet, solange bis die emanzipierte Retterinnenfigur in Gestalt der Linealladenverkäuferin auftaucht und der Protagonistin in fett ihre Lebensgeschichte erzählt und das Lineal mitgibt. Solche Stilmittel und kleinen Aha-Effekte finden sich in fast allen der Kurzgeschichten: Zunächst glaubt man an schlechtes Lektorat, inhaltliche Logik- oder formelle Designfehler – irgendwann aber schaltet sich die Interpretationsmaschine des eigenen Kopfes an und es macht einen Klick, den keine Schriftsteller*in intentional hätte herbeiführen können: Man ist sich beim Lesen sicher, dass die eigene Interpretation eine Dreingabe in den Text ist; und doch wird sie merkwürdig stimmig. Als ob der Text diese Lesart doch gewollt hätte.

Inhaltlich bleiben die Geschichten immer auf dem Boden, auf den Strassen und in den Schulen Berlins. Sie drehen sich um Freundschaften, die trotz und gerade wegen erfahrener Ausgrenzungen entstehen, um das Gleichsein in der Andersheit, um Träume und Wünsche. Sie sind geradlinig in ihren Aussagen, lassen aber manche Verknüpfungen ausser Acht, die eine „erwachsene“ Erzählung stilvoll eingebaut hätte. Und nur deshalb ist es keine esoterische Lebensratgeber-Heuchelei, wenn die Schilderungen mit naiven Wahrheiten enden. Eine als Schnecke gezeichnete Lehrerin zum Beispiel, die eine kleine ich-erzählende Schnecken-Protagonistin immer auf Trab hält, „vergisst, dass wir alle eigentlich Schnecken sind und ich brauche meine Zeit“ (S. 43). Punkt.

Wo eine perfekt durchkomponierte Erzählung aus Erwachsenenhand zu einem solchen Schluss kommt, hätte sie sich genau deshalb bereits zur Lüge gekehrt: Den spiritualistischen Weisheiten des Alchemisten (Coelho), des kleinen Prinzen (Saint-Exupéry) und eines angeketteten Elefanten (Jorge Bucay) haftet genau diese peinliche Berechnung an, die die Leser*innenschaft nach beendeter Lektüre falsch mit der Welt versöhnt. Die Geschichten von „Wir sind Heldinnen!“ dagegen sind durch ihren stilistischen (Nicht-)Aufbau ehrlicher.

Kindliche „Naivität“ als politisches Werkzeug

Doch man verfehlt die Qualität der Texte (zugegebenermassen: einiger mehr und anderer weniger), wenn man sie nur hinsichtlich ihres kindlichen Charmes liest und ihre Güte durch einen „Kinderbonus“ beurteilte. Die grosse Überraschung in der Rezeption entsteht nicht aus der Diskrepanz von talentierter Erzählfähigkeit und doch so jungem Alter. Denn wirklich handelt es sich um ganz normale Kindergeschichten, das heisst, um Erfahrungen und Eindrücke, wie sie (stilistisch) jedes Kind erzählen könnte. Nein, die Qualität liegt im Auseinanderklaffen der Einfachheit der Erzählungen und der Verwirrung über die Welt, die sie hinterlassen. Das Tragische ist im simplen Aufbau enthalten: die Probleme sind klar, die zwischenmenschlichen Verletzungen deutlich, aber auch die Lösungen warten in vielen der Texte buchstäblich an der nächsten Strassenecke (ob im Schoss von Geschwistern und Eltern, im Gebüsch und Geheimversteck mit der neuen besten Freundin oder im Linealladen).

Tragisch ist das, weil so offensichtlich ist, dass uns nur ein Schritt trennt von einem Alltag ohne Bevormundung, ohne Rassismus, ohne Ängste – sich der status quo, siehe draussen, aber doch immer reproduziert. Bei manch erzählten „Problemchen“ im Sammelband wird den erwachsenen Lesenden klar, dass es die eigene Frechheit war, das Problem als Trivialität zu verniedlichen: Denn was die Kinder alltäglich mitnimmt, wird dort emotional verstehbar und kann dann nicht mehr trivial sein. Es braucht in diesen Fällen keine avantgardistischen Mittel, um einen Erwachsenen mit einer solchen neuen An- und Einsicht zu verblüffen. Im Gegenteil: Die entwaffnende Irritation entsteht durch die Reduktion der Stilmittel, dadurch, dass schlichtweg gezeigt wird, was da ist. Die Geschichten sind im besten Sinne naiv.

Wie traumatisierend Schulhof-Hänseleien für den Rest des Lebens werden können, das zeichnet sich im „Heldinnen!“-Buch nur ex negativo ab. Denn der Sammelband ist bereits die Bewältigungsstrategie möglicher Traumata (auf jeden Fall: der allnächtlichen Träume mancher der Autorinnen). Damit zeigt der Band schon durch seine physische Existenz im Bücherregal einen konstruktiven Lösungsansatz. Er belegt schwarz auf weiss, dass es einen Ort gibt, an dem sich Kinder über ihre Ängste austauschen können. Nicht umsonst ist das Buch auch eine Werbung dafür, eigene „Selbstverteidigungskurse“ zu gründen. Über den Erfahrungswert für die Lesenden der Texte als Stücke Literatur hinaus ist der Sammelband deshalb vor allem: die Dokumentation eines gelungenen safe spaces für Kinder. Wenn das kindisch ist, dann ist es jede andere emanzipative Tat auch.

Kevin Grünstein
kritisch-lesen.de

SVK - Selbstverteidigungskurs mit Worten: Wir sind Heldinnen! Unsere Geschichten. w_orten & meer, Berlin 2017. 290 Seiten, ca. 18.00 SFr, ISBN 978-3-945644-11-9

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