Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Erwachsenwerden in der Endzeit

Belletristik

Sibylle Bergs neuer Roman «GRM. Brainfuck.» erzählt von einer Jugend nach dem Brexit: böse, hellsichtig und messerscharf.

Busbahnhof von Rochdale, England.
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Busbahnhof von Rochdale, England. Foto: Rept0n1x (CC BY-SA 3.0 cropped)

21. Juli 2019
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„GRM. Brainfuck“ beginnt da, wo die Welt zu Ende ist: in Rochdale, Grossbritannien, einer „Stadt im Todeskampf“, die man „ausstopfen und als Warnung vor unmotivierter Bautätigkeit in ein Museum stellen müsste“ (S. 8). Hier leben die Armen, Abgehängten und „Überflüssigen“ der Gesellschaft. Und hier wachsen Don, Hannah, Karen und Peter auf, „Aussenseiter in einer Welt des normalen Elends“ (S. 158) und Hauptfiguren von Sibylle Bergs neuem Roman.

Wir befinden uns in einem England der nicht allzu fernen Zukunft. Nach dem Brexit ist das Land mittlerweile in eine „geregelte Eskalationsphase“ (S. 428) eingetreten, die mit dem erfolgreichen Abbau des Sozialstaates, dem direkten Weg in die Zweiklassengesellschaft, der totalen Überwachung und biopolitischen Kontrolle sowie der Unterdrückung aller, die keine Kaufkraft haben und nicht zur männlichen weissen Elite gehören, einhergeht.

Coming of Age in der Endzeit

Keine guten Zeiten, um erwachsen zu werden. Erzogen werden Don, Hannah, Karen und Peter nicht von ihren Eltern, sondern von ihren digitalen Endgeräten, denen sie die wenigen schönen Augenblicke ihres Alltags verdanken. Einsamkeit, Demütigung, Verwahrlosung, Missbrauch, Drogen, Vergewaltigung, Prostitution – tatsächlich bleibt ihnen so gut wie nichts erspart.

Was nach Sozialklamotte klingt, geht in Wahrheit weit darüber hinaus. Sibylle Berg schildert das Coming of Age in der Endzeit so, wie es vermutlich sein wird: bizarr. Die vier Kinder erstellen eine „Todesliste“ (S. 106) und beschliessen, sich zu rächen. Dabei bekommen sie es mit allerlei neuen technologischen Daumenschrauben und Optimierungs-Tools zu tun, treffen auf Hacker*innen im Untergrund, autokratische Eliten mit den abartigsten sexuellen Vorlieben, militante Abtreibungsgegner, irre Oligarchen und Programmierer, denen die künstliche Intelligenz allmählich über den Kopf wächst. Das alles ist rasant erzählt, blitzgescheit und mitunter auch schockierend. Aber bewegt es auch?

Naja, wenn man „GRM“ nur als Roman liest, und wenn man von diesem Roman komplexe Persönlichkeiten und psychologische Tiefenschärfe erwartet, wird man womöglich enttäuscht sein. Einfühlsame Charakterstudien findet man hier nämlich nicht. Darum geht es aber auch gar nicht. Sibylle Bergs Figuren sind grob geschnitzte Stellvertreter*innen einer Welt, die ihren Mitgliedern nichts mehr zu bieten hat, schon gar nicht die freie Entfaltung des Individuums. Ihr Buch zielt nicht auf die subtile Vermessung des Subjekts, sondern auf die Zergliederung des grossen Ganzen, dessen kaputte Strukturen der Text Stück für Stück freilegt – messerscharf, schwarzhumorig, fies und absolut unversöhnlich.

Die im Roman entworfene Post-Brexit-Gesellschaft ist eine Verlängerung der Orwell'schen Überwachungsdiktatur unter den Vorzeichen des globalen und digitalen Kapitalismus und unter dem Deckmäntelchen eines vermeintlichen Sozialstaates. Grundeinkommen für alle? Gibt es! Allerdings nur als Vorwand, um Sozialhilfe, Rente, Krankentagegeld und Invalidenzahlungen abzuschaffen. Und auch nur für diejenigen, die sich einen Chip einpflanzen lassen, auf dem sämtliche persönliche Daten registriert sind. Mit diesem werden ausserdem die „sozialen Punkte“ erfasst, die die Bürger*innen fortan durch vorbildlichen Lebenswandel erwirtschaften müssen – natürlich für alle öffentlich online einsehbar:

„Von Lob oder Tadel der Schwarmintelligenz abgesehen sind die Punktezahlen auch für Vermieter, Banken, Versicherungen und potenzielle Geschlechtspartner interessant. Beziehungsweise nicht interessant. Jede Woche wird der ‚Verlierer der Woche' ermittelt, der ganz weit oben im negativen Ranking steht. Die Verlierer, die auf der Startseite der Karma­Point­Homepage erscheinen, werden in den darauf kommenden Wochen online begleitet: Beim Verlust ihrer sozialen Kontakte (man meidet Verlierer), beim Verlust ihrer Wohnung, ihrer Jobs, ihrer Heizung, ihres Wassers. Die gesellschaftliche Genugtuung erreicht ihren Höhepunkt, wenn so ein Unmensch am Ende der öffentlichen Observation am Strassenrand hockt. Mithin werden sie auch zusammengeschlagen, die Punkteversager. Das Zusammenschlagen von Punkteversagern führt zu keinem Punktabzug.“ (S. 282)

Sibylle Bergs Pointen sind überspitzt und brachial. Zugleich sind sie nur einen Wimpernschlag von unserer Gegenwart entfernt. Da ist die konsequente Privatisierung des Gesundheitswesens, da sind Nationalismus und Abschottungsbestrebungen, denen die komplette wirtschaftliche Übernahme des Landes durch chinesische Firmen gegenübersteht. Da ist die Ablösung des Bargelds durch eine neue virtuelle „Kryptowährung“, die von den Finanzinstituten kontrolliert wird. Und da sind Städte „voll mit angespannten Menschen, denen auch das Grundeinkommen keine wirkliche Ruhe geschenkt hat“ (S. 353), denn:

„Das Geld langt einfach nicht, obwohl die offiziellen Zahlen so hervorragend sind. Dank Grundeinkommen gibt es keine Arbeitslosen mehr. Dank Minijobbern und Job­Hoppern und Miniverträgen und Leiharbeit und Jobnomaden […]. Die ein wirklich freies Leben führen. Na ja, irgendwie. Zu denen immer wieder Kamerateams der BBC fahren. Gefahren sind. Früher. Gehabt haben. Tschüssi.“ (S. 353)

Grime

An dem abgebrühten Sound, der die Grenze zum Plakativen und zum Zynismus mehr als einmal überschreitet, kann man sich gewiss stossen. Er ist aber konsequent. Denn ebenso disharmonisch, dreckig und übersteuert wie die erzählte Welt ist auch der Text. Es passt gut, dass Sibylle Berg ihre Buchpräsentationen kurz nach der Veröffentlichung des Romans nicht in Form von Lesungen, sondern als Performances mit „Grime“ abgehalten hat, einer Musik, die für die Jugendlichen im Buch eine Schlüsselfunktion spielt und die in den PoC-Communities in den ökonomisch abgehängten Londoner Stadtteilen entstanden ist. Grime heisst Schmutz und ist düster-elektronischer Highspeed-Rap mit hohem subversivem Potenzial. Und ein bisschen Grime ist auch Sibylle Bergs Prosa.

Das Arrangement ist experimentell, die Sätze krachen roh und abgehackt aufeinander, die Perspektiven wechseln sprunghaft und übergangslos, dazwischen immer wieder Momente von schlichter brutaler Poesie. Vermittelt wird das Ganze von einer Erzählstimme, die gar nicht so einfach zu verorten ist: unbarmherzig, aber nicht teilnahmslos, abgeklärt, aber nicht klinisch, ultracool, aber nicht scheissegal. Das ist das eigentlich Markante an diesem Text, aus dem echte Wut spricht und der auf über 600 Seiten eine gewaltige Empörungsenergie freisetzt.

„GRM. Brainfuck“ ist nicht bloss eine Dystopie oder ein Gesellschaftsroman. Es ist eine literarische Not-Operation am offenen Herzen unserer Gegenwart.

Stephanie Bremerich
kritisch-lesen.de

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 640 Seiten. ca. 30.00 SFr. ISBN: 978-3462051438

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