Rezension zum Roman von John Steinbeck Früchte des Zorns

Belletristik

Steinbeck schildert aus der letzten Weltwirtschaftskrise die Enteignung der Farmer in den USA und ihre qualvolle Unterwerfung unter die Lebens- und Arbeitsbedingungn des Prolerariats.

John Steinbeck (Bildmitte) mit seinem Sohn Jon (links) auf Besuch im weissen Haus am 16. Mai 1966.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

John Steinbeck (Bildmitte) mit seinem Sohn Jon (links) auf Besuch im weissen Haus am 16. Mai 1966. Foto: LBJ Library (PD)

10. Dezember 2015
0
0
10 min.
Drucken
Korrektur
"Die Weltwirtschaftskrise von 1929 begann als Ende des langen US-Booms der zwanziger Jahre. Preisverfall in der Landwirtschaft ohne zunehmende Nachfrage nach ihren Erzeugnissen hatte nach 1920 die Einkommen der Farmer schrumpfen lassen. Die industrielle Beschäftigung stagnierte unter anderem aufgrund von Rationalisierung. Für die zusätzlichen Güter fand sich keine erweiterte Binnennachfrage, zumal ja die Kaufkraft der Landwirtschaft zurückging. Die Löhne blieben hinter der Produktivität zurück. Zwar sanken auch die Preise für industrielle Güter, aber nicht so stark, dass dadurch ausreichend neue Kaufkraft erzeugt worden wäre. Überschüssiges Kapital wurde deshalb zunehmend spekulativ eingesetzt, die Investitionen gingen zurück." (Fülberth in Junge Welt, 13.04.2009)

Soviel in grossen Zügen über die letzte grosse Krise 1929 in den USA. Analytisch, vergleichend, kühl. Wie aber wirkte sich das hier Beschriebene auf Menschen aus, die es erlebten. Kann man so etwas auch erzählen?

Das Problem besteht offensichtlich darin, dass ein Vorgang erfasst werden müsste, der Tausende, Hunderttausende erfasst, die alle von ganz verschiedenen Voraussetzungen ausgehen und an den verschiedensten schwachen Punkten erwischt werden, um von der Selbstständigkeit des kleinen Farmers ins Proletariat herabgeschleudert zu werden. John Steinbeck hat 1939 den Versuch unternommen, das ganz Allgemeine der Wanderbewegung der landlos gemachten Farmer nach Kalifornien und später in die Städte in einem einzigen Roman zusammenzufassen: "Früchte des Zorns". Seither immer neu veröffentlicht und übersetzt. Und wie hat er es angefangen, das Einzelne und das Allgemeine zusammenzubringen?

Zum einen legte er die Reportagen zugrunde, die er für eine Zeitschrift auf Bestellung gemacht hatte über die Erschütterungen des Landlebens. Diese reportagenartigen Zwischenartikel schiebt er in seinen Roman immer wieder ein. Nicht so, wie Erasmus Schöfer, bei dem die Reportage treffsicher bleibt, die Handlung der Einzelmenschen aber nur schematisch eingefügt wird - als leere Vergegenwärtigung sozusagen. Steinbeck lässt sich wirklich auf den Einzelfall ein: im Mittelpunkt seines Berichts steht die Familie Joas, mit Grossvater, Grossmutter, Vater, Mutter, vier Söhnen und zwei Töchtern. Dazu dem Schwiegersohn, Ehemann der einen schwangeren Tocher, die hochtrabend Rosa von Sharon getauft worden war, aber meist nur bescheiden unter Rosacharn firmiert.

Steinbeck schildert ein Schicksal, das die "Geschickten" bis zum Ende nicht wirklich begreifen. Von sich aus sieht sich die ganze Familie weiterhin als eine von Bauern, die zwischendurch etwas arbeiten und verdienen muss, um bald wieder eine Farm in besserer Gegend zu bekommen. Genau wie in der BRD nach dem Krieg: ich kannte Leute, die jahreinjahraus in die Fabrik gingen, am Feierabend ihr Land bewirtschafteten, um für den Traktor, später für den Mähdrescher zu sparen. Immer in der Hoffnung, wieder die selbständigen Bauern zu werden, die sie mal waren. Sie wurden es nie mehr.

So erleben sich die Joads vor allem als Vetriebene - und Gehetzte. Denn an der Grenze eines jeden Bundesstaates, den sie durchqueren, werden sie peinlichst inspiziert. Haben sie Getreide- oder Baumwollsamen dabei? Oder Obstbaumstecklinge? Um Gottes willen, keine Neusiedler. Wir haben schon Farmer genug. Und das bei ganz anderen Mengen von Brachland als wir sie uns im engen Europa vorstellen können. Steinbeck schildert immer wieder und immer eindringlicher die notwendigen Bewusstseinsschranken, die die Vertriebenen und Wandernden aufbauen müssen.

"Ein Fuss vor den andern" wiederholen Tom, der zweitälteste Sohn und eine der Hauptfiguren, genau wie seine Mutter bei jeder Gelegenheit. Sie erschrecken vor dem Schlag, den sie erleiden müssten, würden sie das Ganze ihrer Lage auf einmal erblicken. Die Aussichtlosigkeit, ja Erblichkeit des Proletarierdaseins, wie es sich zunächst darstellt. Ebenso die Bindung an die Familie. Durch Tod und Hoffnungslosigkeit entfernen sich unterwegs immer mehr Mitglieder von der Familie. Hoffnungslosigkeit? Vielleicht auch Hoffnung allein sich leichter durchschlagen zu können als im Tross.

Die Mutter aber setzt bis zur Gewalttätigkeit auf den Zusammenhalt der Familie. "Das ist das einzige, was wir noch haben!" Damit verändert sich auf diesem "langen Marsch" wie auf einem denkwürdigen anderen die Stellung der Frau. Am Anfang hiess es noch: die Kinder und Frauen schauten auf die Männer, die im Kreis zur Beratung sassen. Hatten die beschlossen, waren die Frauen beruhigt. Als aber in der Mitte der Erzählung jemand den Vorschlag macht, dass ein Teil des Trecks vorausfahren sollte - es stehen zeitweise zwei Wagen zur Verfügung - da greift diese Frau nach dem Wagenheber und droht, jeden niederzuschlagen, der auf so einem Plan besteht.

Es wird dann ganz ernsthaft diskutiert, dass zwar alle zusammen Mutter niederschlagen könnten, aber dass man dann eben keine Mutter mehr hätte. Schliesslich setzt sich der archaische Wille zum absoluten Zusammenhalt - durch dick und dünn - durch. Steinbeck verhehlt sich und uns nicht, dass damit eine ungeheure Einengung des Horizonts verbunden ist, scheint aber bis zum Ende geneigt, der Mutter recht zu geben. Denn es bietet sich nur in Ansätzen eine andere Form des Zusammenhalts an – die aller landlos gewordenen Farmer zusammen. Natürlich zusätzlich erschwert dadurch, dass zwischen den ehemaligen Farmern und jetzigen Landarbeitern nicht der selbstverständliche Arbeitszusammenhalt sich herausbildet wie in einer Fabrik.

Gegen Ende des Romans gelingt es der Familie tatsächlich, als Pfirsichpflücker einen Job für fünf Cent die Stunde zu bekommen, was für die ganze Familie gerade zu einer recht ärmlichen Mahlzeit am Tage ausreicht. Es stellt sich nur heraus, dass alle - ohne es zu wissen - als Streikbrecher in ein riesiges abgezäuntes Lager eingeliefert wurden, das von staatlicher Polizei und den sogenannten "Pinkertons" rigoros überwacht wird. Als es Tom, dem ehemaligen Gefängnisinsassen, gelingt, auf Schleichwegen das Lager zu verlassen, stösst er auf die Streikenden, die in Zelten im Gebüsch den Polizeiangriff erwarten. Er erfährt dort, dass der Streik darum ausgebrochen war, weil die Beschäftigten von eben den fünf Cent auf die Hälfte heruntergedrückt werden sollten. Naheliegender Gedanke: wenn die im Lager mitstreiken würden, hätten alle ihre fünf Cent gerettet. Vor allem, da mit der endgültigen Niederschlagung des Streiks vor den Toren im Innern des Lagers auf jeden Fall wieder die zweieinhalb Cent an der Tagesordnung wären. Tom darauf:

"Heute abend hats Fleisch gegeben. Nicht viel, aber Fleisch. Glaubst Du, Vater gibt wegen anderen Leuten sein Fleisch auf? Und die schwangere Rosasharn braucht Milch, glaubst du, Mutter lässt das Kleine verhungern, nur weil hier vor dem Tor n paar Leute schreien?" (S. 452)

Steinbeck wählt nicht die Lösung Maxim Gorkis, der in "Die Mutter" diese Mutter die Liebe zum einzigen Sohn, der erschossen wird, auf die Kampfgenossen übertragen lässt. Die etwas sentimentale Schlussszene, in der Rosa von Sharon nach der Totgeburt ihres Kindes einem armen Mitbettler ihre volle Brust reicht, damit er nicht verhungert, reicht als Handlungsansatz nicht aus. Insofern endet der Roman ohne jede konkrete Aussicht auf Änderung. Casey, ein ehemaliger Prediger, jetzt Anführer und in gewissem Sinn Theoretiker der Streikenden, wird von einer Art brutaler Bürgerwehr erschlagen. Tom schlägt bei seiner Verteidigung einen Angreifer tot, ist durch Narben entstellt, und muss fliehen. Die Familie, am Ende durch Hochwasser auch noch um den Lastwagen als letzten Besitz gebracht, zieht ins Dunkle.

Immer deutlicher aber stellt sich durch den ganzen Roman heraus: die Staatsgewalt ist der Feind. Ohne die Polizisten und die staatlich approbierten Sicherheitsorgane (Pinkertons, Vorläufer der jetzt im Irak eingesetzten Hilfskräfte) wäre alles, was den Joads und tausend anderen passiert nicht möglich. Weder könnten dann die Banken, denen über Schuldverschreibung die Farmen inzwischen gehören, die Farmer vertreiben zugunsten grossflächiger Bewirtschaftung mit den neuen Traktoren, noch wären Arbeitslager auf privater Basis möglich, noch die ganz offizielle Verfolgung der "Leuteaufhetzer" und "Roten". (Wobei als "rot" einer gilt, der gern statt 25 Cent 30 in der Stunde möchte).

Wenn der an sich unmarxistische Steinbeck etwas ganz klar herausgearbeitet hat, dann das: die ganze kapitalistische Wirtschaft könnte ohne brutalsten Einsatz der Staatsgewalt keine Stunde lang bestehen, sobald die Krise offensichtlich ist. Wie würden die hungernden Massen es hinnehmen, dass fruchtbarstes Gelände absichtlich brach liegt, dass Pfirsiche, Schweine, Kartoffeln vernichtet werden, wenn nicht Polizei die Hungernden an der Stürmung des Landes und an der Erbeutung der Nahrungsmittel hinderte. Zugleich zeigt Steinbeck - prophetische Lehre für 2009 -, dass um so mehr Zwangsgewalt nötig wird von Seiten des Staates, je schärfer die Krisensymptome hervortreten. Steinbeck war grosser Anhänger Präsident Roosevelts und seines "New Deal". Von dessen Arbeitsbeschaffungsmassnahmen findet sich im Buch realistischerweise kein Wort. Auf die scheint Steinbeck zumindest am wenigsten gesetzt zu haben.

Was er aber als wirkliche Oase ausmalt inmitten der Trostlosigkeit ist ein staatlich geführtes Lager für solche umherziehenden Farmer. Wichtigstes Kennzeichen: die kalifornische Polizei lungert um das Camp herum, darf aber ohne "Gefahr in Verzug" das bundesstaatliche Gelände nicht betreten. Im Innern dieses Lagers ganz anderer Art herrscht strengste Selbstverwaltung. Störenfriede werden zweimal verwarnt, beim drittenmal rausgeworfen. Es gibt Klos mit Wasserspülung, Duschen und einen selbstgebauten Saal für Tanz und andere Veranstaltungen. Wer den Dollar Bezahlung für eine Woche Aufenthalt nicht besitzt, arbeitet diesen durch Einsatz für Erhalt und Ausbau des Lagers ab.

Als die Polizei beim samstäglichen Tanz mit eingeschleusten Provokateuren einen Zwischenfall und damit die "Gefahr im Verzug" inszenieren will, bekommen die jungen Burschen im Camp das sofort mit, umringen die drei "Auslöser" beim ersten Ansatz von Streit und schieben sie im Pulk an den Zaun des Geländes. Obwohl sie selbst - samt dem Leser - die grösste Lust verspüren würden, die drei Herren mit einem kräftigen Tritt in den Arsch über den Zaun zu befördern, beherrschen sie sich heldisch, weniger aus christlicher Nachsicht, als um der Polizei nicht doch zuguterletzt noch einen Vorwand zu liefern. Durch das Camp marschiert ein - sonst nie eingreifender - Herr, der das Bein leicht nachzieht, in weisser Jacke und mit einem hellen Strohhut. Wie uns Kommentatoren versichern, sollen wir in diesem Direktor einen Mini-Roosevelt erblicken.

Was ist nun die Funktion dieses gewiss nicht luxuriösen erzreformistischen Einsprengsels in den sonst so harten Verlauf des Geschehens? Einmal wohl die Errichtung eines Schutzraums, in dem selbsttätiges Zusammenwirken von einander fremden Leuten erprobt werden kann. In den gewöhnlichen Camps, die sich an Strassenrändern zusammenfinden, bricht - trotz immer wieder auftretender Fälle gegenseitiger Hilfe - der Krieg aller gegen alle zu schnell aus, verstärkt durch willkürliche Polizeieingriffe.

Zum andern erleben die Farmer, die auch bei sich daheim, solche Einrichtungen wie Wasserklosetts und fliessendes warmes Wasser nicht kannten, welche Möglichkeiten in der technischen Entwicklung der Moderne auch liegen. Nicht nur die zerstörenden der Traktorwirtschaft unter der Fuchtel des Kapitals. Da es auch um dieses Lager herum keine Arbeit gibt, müssen die Joads weiter. Alles Reformistische erscheint hier also nicht als Heilung des Elends. Allenfalls als Ruhepunkt, um - unter Suspendierung der ewigen Pressung durch die Not des Augenblicks - einen klaren Gedanken zu fassen. Einen zur endgültigen Behebung der Misere. Soweit kommt es in diesem Roman freilich nicht.

Steinbeck hat sich auf seine älteren Tage an Johnson weggeworfen und den Vietnam-Krieg verherrlicht. Das darf uns in der Beurteilung der "Früchte des Zorns" aus dem Jahre 1939 nicht beirren. In diesem Roman hat er - aufgrund genauester Beobachtung - jedenfalls die massenhaften Erschütterungen gezeigt, die in dem einfachen Wort "Umwälzung" aller bestehenden Verhältnisse stecken. Zugleich immerhin einen Wink gegeben: Hunger in der lebensverzehrenden Form wie im Roman geschildert, gibt es heute in der BRD wahrscheinlich selten bis nie.

Aber die Entwurzelung weniger der verbliebenen Bauern als der Arbeiter setzt sich über Kurzarbeit und Entlassungswellen reissend fort. Dass die staatliche Repression zunimmt, muss niemand extra erklärt werden. Wichtig aber die Einstellung zu Reformen, als dem Äussersten, was die Merkels und Steinbrücks abzuwerfen gedenken: wie Schulungszentren und mehr Kitas. Sie stehen dem Willen zur revolutionären Veränderung dann nicht im Wege, wenn es gelingt, wie von Steinbeck geschildert, die Verwaltung und Ausrichtung dieser Einrichtungen in die eigene Hand der Bewohnerinnen und Bewohner zu bekommen. Dann können sie wirklich Stationen des Atemholens und der Bewusstwerdung werden.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

John Steinbeck: Früchte des Zorns. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2008. 544 Seiten, ca. 17.00 SFr, ISBN 978-3-423-10474-6

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.