Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst Die vermeintlich unaufhaltsame Revolution des Proletariats

Belletristik

28. August 2018

Es ist das Jahr 1995, als Ingo Schulze mit seinem Erzählband »33 Augenblicke des Glücks« erstmals literarisches Parkett betritt.

Ingo Schulze auf der Frankfurter Buchmesse 2017 bei der Präsentation seinens neuen Romans „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“.
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Ingo Schulze auf der Frankfurter Buchmesse 2017 bei der Präsentation seinens neuen Romans „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“. Foto: Udoweier (CC BY-SA 4.0 cropped)

28. August 2018
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Damals allerdings schreibt er gewissermassen noch aus den Erfahrungen seines zwischenzeitlichen beruflichen Exils heraus. Als Herausgeber eines Anzeigenblattes lebte Schulze für einige Monate in St. Petersburg, seine ersten Erzählungen stehen und spielen unter dem Eindruck der russischen Metropole. Die grosse Persiflage auf die deutsch-deutsche Wiedervereinigung schreibt in diesem Jahr daher zunächst ein anderer: Thomas Brussig, der in seiner hochgelobten DDR-Satire »Helden wie wir« die Berliner Mauer in einem phallischen Hergang von seinem dauerlüsternen Stasi-Spitzel und »Multi-Perversen« Klaus Uhltzscht oder besser: von dessen überproportionalen Geschlechtsorgan zum Einsturz bringen lässt.

Wer 1995 allerdings noch glaubte, damit alles an Skurrilitäten rund um den Berliner Mauerfall gelesen zu haben, der sieht sich heute eines Besseren belehrt. Denn nach zahlreichen weiteren Veröffentlichungen hat längst auch der gebürtige Dresdner und inzwischen mehrfach preisgekrönte Ingo Schulze zu seinem eigentlichen Thema gefunden und schickt nun, 13 Jahre später, mit »Peter Holtz« seinen eigenen Antihelden ins Rennen um den Titel des schratigsten Mauerspechts der Wendeliteratur. Ganz nebenbei verhilft er damit einem fast vergessen geglaubten Genre zur Renaissance. Denn dass er beim Schreiben nichts anderes als einen echten, Grimmelshausen-mässigen Schelmenroman vor Augen hatte, das verrät der Autor höchst selbst im Nachwort desselben und liefert so dem Leser en passant und frei Haus die passende literarische Schublade für seinen Protagonisten.

Tatsächlich hat Peter Holtz vieles, was es zu einem klassischen Picaro braucht, wenn auch mit einem entscheidenden Unterschied: Peter ist Sozialist, ein Schelm mit Hammer und Zirkel sozusagen, und das aus Überzeugung. Ein Linientreuer, ein 101-Prozentiger, einer, der die offiziellen Losungen zum ersten Mai auswendig runterbeten kann und seine Dienste für die Stasi so stolz in der Gegend herumposaunt, dass die ihn schon kurz nach seiner Anwerbung gar nicht mehr haben will.

Dabei tut er nichts anderes, als die Verheissungen des Sozialismus beim Wort zu nehmen und das ist im Grunde auch schon das ganze Dilemma oder vielmehr der Clou des Romans: Peter will stets das Gute – die sozialistische Weltrevolution – und erreicht, von seinen Mitmenschen un- oder missverstanden, doch immer genau das Gegenteil. So wird er unter anderem dank einer vom Publikum fehlinterpretierten Sangesdarbietung seiner liebsten Arbeiterlieder zum Erfinder des DDR-Punks, aus reiner Fürsorge und Nächstenliebe zum Inhaber eines profitablen Bordells und zu guter Letzt verhilft er mit seiner Forderung nach sofortiger Öffnung der Grenzen – natürlich nur für den Fall, dass aus der BRD »Verfolgte, Arme oder Obdachlose zu uns kommen wollen« – auch noch unverhofft dem Klassenfeind zum Sieg.

Es ist ein grosser Spass, was Ingo Schulze da gelungen ist, wie er uns durch die Augen seines Ich-Erzählers noch einmal auf die innerdeutsche Historie blicken lässt, ganz ohne erhobenen Zeigefinger und ohne den biederen Ernst der Geschichtsbücher; wie er uns pointiert durch dessen verqueren Alltag navigiert und wie er es dabei meistert, den zeitgenössischen Stoff mit der barocken Form des Schelmenromans zu einer überraschend homogenen und sinnhaften Einheit zu verzahnen.

Etwa durch die vorangestellten Erklärungen, die jedes neue Kapitel einleiten, ganz im Stile des literarischen Vorbilds; vor allem aber ist es ein grosser Spass, wie sich in diesem Buch die eingebläuten Kampf-Parolen (»Nieder mit dem persönlichen Egoismus, nieder mit dem Privateigentum!«) in der kindlich-naiven Auslegung seines Protagonisten ein ums andere Mal selbst entlarven. Zum Beispiel, wenn sich der gerade zwölfjährige Peter gleich zu Beginn – wie immer mit besten Absichten und im Brustton der Überzeugung – weigert, die fällige Zeche in einem Ausflugslokal zu bezahlen.

„Wiederholt biete ich der Kellnerin an, die von mir verzehrte Portion Eisbein mit Kartoffeln, Sauerkraut und Senf sowie das Glas Fassbrause abzuarbeiten, sie brauche mir nur eine Aufgabe zuzuweisen. Ich wolle sie aber nicht wegen Kinderarbeit in Schwierigkeiten bringen. Naheliegend sei es hingegen, mir die Verköstigung nicht zu berechnen. »Warum soll mir unsere Gesellschaft das Geld erst aushändigen«, frage ich, »wenn dieses Geld doch über kurz oder lang sowieso wieder bei ihr landet?«”

All das ist grandios und lässt einen bereitwillig über die ein oder andere charakterliche Schwäche des Peter Holtz hinwegsehen. Denn der ist alles andere als ein Sympathieträger, mit seiner unaufhörlichen Besserwisserei, seiner Penetranz und seiner fast schon pathologischen Ironie-Resistenz treibt er seine Mitmenschen – und ja, bisweilen wohl auch seine Leserschaft – an den Rande der Verzweiflung. Ausrufe wie »Ich glaube, der meint das ernst« oder »Was bist du denn für einer?« sind an der Tagesordnung, wenn Peter seine Umwelt wieder einmal mit einem seiner Vorträge über die vermeintlich unaufhaltsame Revolution des Proletariats vor den Kopf stösst (im Übrigen ist natürlich klar, dass es auf eine so banale Frage wie »Was bist du denn für einer?« nur eine korrekte Antwort geben kann: »Peter Holtz«, sage ich, »wir haben uns vorhin schon begrüsst«).

Wo aber steht schliesslich schon geschrieben, dass man als echter (Anti-)Held unbedingt beliebt sein muss, immerhin dürften auch dem ständig geilen Klaus Uhltzscht mit seinen megalomanen Masturbationsphantasien nicht gerade die Herzen aller Schwiegermütter zugeflogen sein. Und natürlich hat hier das Missverständnis Methode, der ganze Witz des Romans basiert im Grunde auf der unübersehbaren Divergenz zwischen Selbstwahrnehmung und Aussenwirkung.

Schade nur, dass Schulze sich zu keinem Zeitpunkt über das einmal begonnene Erzähl-Muster hinauswagt. Denn ein bisschen ist es damit wie mit allen Witzen: auch die besten verlieren, je öfter und länger man sie erzählt, unweigerlich an Spannung. Vor dieser Gefahr ist auch »Peter Holtz« nicht gefeit, zumal der Roman mit seinen rund 570 Seiten nicht gerade schmal geraten ist. Wenn dann auch noch der Protagonist selbst in seiner immer gleichen Argumentationsstruktur stagniert, bleibt, bei aller Belustigung, für den Leser nur noch wenig wirklich Überraschendes.

Allerdings: mit der Grenzöffnung erfährt auch die Erzählung eine »Wende«, nimmt sie noch einmal Fahrt auf. Denn anders als erhofft muss Peter feststellen, dass nicht nur der Sozialismus nicht als Sieger der Wiedervereinigung hervorgeht, zu allem Überfluss ist er selbst auch noch ungewollt und quasi über Nacht zum Multimillionär avanciert. Die heruntergekommenen Immobilien, die ihm im Arbeiter- und Bauernstaat eher ein Klotz am Bein waren, die er sich aber uneigennützig hatte überschreiben lassen, um sie für die Mieter in einem Akt der Solidarität wieder instand zu setzen, erweisen sich in der freien Marktwirtschaft als wahre Goldgruben – Geldsorgen einmal anders oder Wie schafft man es, sein überflüssiges Geld mit Anstand wieder loszuwerden?

Das nämlich erweist sich in einer Gesellschaft, die so sehr auf Konsum getrimmt wurde, dass sie bereit ist, für jeden noch so aberwitzigen Blödsinn Geld zu bezahlen und in der jede Ausgabe in doppelter und dreifacher Menge zu ihrem Investor zurückfliesst, als gar nicht so einfach. Damit wird Peters Kampf gegen das Kapital zu einem Kampf gegen Windmühlen, er selbst zu einem sozialistischen Don Quichotte – und das ist in seiner ganzen grotesken Inszenierung nicht nur erschreckend plausibel, sondern dann eben doch schon wieder irgendwie grandios.

So hat Ingo Schulze trotz gelegentlicher Längen mit Peter Holtz am Ende einen im besten Sinne komischen Wendehelfer geschaffen, einen schrägen Vogel, der sich – zumindest in Sachen Skurrilität – vor den Klaus Uhltzschts dieser Welt durchaus nicht verstecken muss: sehr ernsthaft lustig, konsequent nervtötend und gerade wegen dieser verschrobenen Mischung mit dem Zeug zur Kultfigur.

Leo Eberhardt

Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. S. Fischer, Berlin 2017. 576 Seiten, ca. 26.00 SFr, ISBN 978-3103972047