Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand Slawische Depression im Wandel der Zeit

Belletristik

Andrzej Stasiuk, der begnadete polnische Schriftsteller welcher im östlichen Sprachraum immer wieder grosse Erfolge feiert, schlägt in seinem neuen Roman "Hinter der Blechwand" einmal mehr radikale Töne an.

Der polnische Autor Andrzej Stasiuk (rechts im Bild).
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Der polnische Autor Andrzej Stasiuk (rechts im Bild). Foto: Sławek (CC BY-SA 2.0 cropped)

10. Oktober 2011
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Im Mittelpunkt stehen bittere Armut, abgrundtiefe Melancholie und hoffnungslose Einsamkeit. Drei Schwerpunkte, denen unsere auf Erfolg und Ästhetik getrimmte Gesellschafft nicht viel abgewinnen kann. Armut ist weder anziehend noch sexy und die Revolution, die man per Facebook oder Twitter ausrufen könnte, hat in Polen schon vor Jahrzehnten stattgefunden. Kapitalismus und Demokratie sind in ihrer ganzen Absolutheit installiert und nur wenige verspüren grosse Lust, das "neue" System in ihren Grundpfeilern zu hinterfragen.

Für einen grossen Teil der Bevölkerung ist der Europa-Express jedoch abgefahren, obwohl die Wirtschaft von Polen mit Wachstumszahlen gesegnet ist, von denen unsere von den Finanzkrisen gepeinigten Top-Manager nicht einmal mehr zu träumen wagen.

Der Aufschwung findet in den Metropolen von Warschau, Krakau und Danzig statt. Daran teil nehmen jedoch vor allem hedonistisch-motivierte Kalkulationsbürger, gut ausgebildete, karrierebewusste Jungmenschen, korrupte Businessleute und skrupellose Mafiabosse. Für den Rest ist Stillstand Alltag. Was bleibt ist Frustration, Einöde und Abgeschiedenheit.

Der Hass auf den Westen

Die Handlung der Geschichte spielt weit abseits der industriellen Zentren in Südpolen, an der Grenze zu der Slowakei und Ungarn, wo Stasiuk sich im realen Leben schon seit Jahren niedergelassen hat. Hier sind die Verhältnisse einfacher und die Grenzen zwischen Gewinnern und Verlieren sind glasklar gezogen, da die erste Gruppe praktisch inexistent ist. Wer Pläne oder Träume hegt und diese Verwirklicht sehen möchte, zieht weg aus den trostlosen, dem Verfall überlassenen Dörfern und steuert den Moloch an, um dort mit den Worten von Stasiuk "eine neue Existenz aufzubauen zwischen geschminkten Tussies und Arschlöchern mit grossen Klappen."

Was zurück bleibt ist eine mehr oder weniger homogene Masse mit Glatze, abstehenden Ohren, verwitterten Gesichtern und übelriechendem Atem. Jegliche Hoffnung ist illusorisch oder gar ganz abhanden gekommen, gelebt wird in der Vergangenheit, mit einer stoischen Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft.

Hunger leiden muss niemand, dafür sorgen die zahlreichen neuen internationalen Supermarktketten, die die Bevölkerung mit Sonderangeboten zu Discountpreisen überschwemmen, doch deren Qualität ist genauso miserabel und erbärmlich wie die Behausung der nachholbedürftigen Konsumenten.

Der Protagonist des Handlungsstrangs ist ein vorzeitig gealterter Mittvierziger, dessen Lieblingsbeschäftigung darin besteht, am Morgen unzählige Zigaretten zu rauchen und bis Mittag zu warten, bis er im Hinterhof seines am Fluss gelegenen Holzhauses ein Bier öffnen kann um die gegenüberliegende Tankstelle zu beobachten. Ansonsten ist er mit seinem "Geschäftspartner" Wladek auf Tour in den Grenzregionen der neuen EU-Länder, um die aus dem Westen aufgekauften Second-Hand Kleider der ärmlichen und abgerissenen Landbevölkerung anzupreisen.

Mit seinem abgehalfterten Kleintransporter kutschiert er die Ware mitsamt seinem Chef durch die trostlose Region, während dieser ihn unaufhörlich mit Geschichten und Erinnerungen eindeckt, welche ihn zunehmend an den Rand des Wahnsinns bringen. Geld ist knapp, und die bunten Propaganda-Bilder im Fernseher für neue Konsumgüter aus Westeuropa lösen bei den zwei Reisenden nur blanke Verachtung aus. Es wird viel getrunken, nicht exzessiv aber regelmässig, im Stundentakt, dazu werden pausenlos minderwertige Zigaretten geraucht. Dabei wird schnell klar, dass hier nur vordergründig der Anschein einer Händler und Trinker-Story entsteht.

Synthetikprodukte und Plastikschrott

Auf dem Spiel steht das Leben, konfrontiert mit Langeweile und Monotonie, materieller Entsagung und menschlicher Isolation. Der Hass auf den Westen mit all seinen nervösen und künstlich generierten Plastikträumen ist dabei nur ein Ventil und Ablenkungsmanöver, um im grauen Alltag nicht gänzlich unterzugehen. Verantwortlich gemacht werden Menschen, die sich mangels liquiden Mitteln gierig auf chinesische Synthetikprodukte stürzen, welche ihnen einen imitierten Wohlstand vorgaukeln.

Das Verfalldatum des widerwärtigen Plastikschrotts ist jedoch von den umtriebigen Traumproduzenten aus Fernost einkalkuliert, und somit entpuppt sich der Molekular-Ramsch Monate später genauso als inflationäre Illusion wie die Träume der vermeintlichen Besitzer von einem klein bisschen besseren Leben.

Spottbillige Zuckerwaren und muffiger Alkohol erledigen den Rest. "Das Delirium trieb sie aus dem Haus, wenn sie überhaupt ein Zuhause hatten, und sie mussten reden, um nicht all die Stimmen zu hören, die sie im Dunkeln zum Bösen überreden wollten." Die scharfe Beobachtungsgabe und die detailgetreue schriftliche Aufzeichnung von schmerzhaften Erfahrungen sind bei Stasiuk nach wie vor ungebrochen stark und führen uns zu einem düsteren und kränklichen menschlichen Abbild der neuen, modernen EU-Sozietät.

Wer so abrechnet mit einer Gesellschaft, die sich nach jahrzehntelanger kommunistischer Diktatur im kapitalistischen Aufschwung befindet, stösst selbstverständlich auch in seiner Heimat auf Unverständnis und Ablehnung.

Gerade die junge Generation der Polen will nicht verstehen, wie jemand in solch desillusionierter und destruktiver Wortwahl einen Abgesang anstimmen kann auf ein Volk, das sich im positiven Wandel sieht. Glücklicherweise funktioniert der durch Urzeiten malträtierte Instinkt der slawischen Seele aber immer noch einwandfrei, und auch deshalb nehmen viele Mitmenschen in seiner Heimat Andrzej Stasiuk seit langem als das wahr, was er bei uns seit ein paar Jahren in den belesenen Literaturkreisen gilt: nämlich der zeitgenössisch relevanteste Schriftsteller Polens.

Immer unbequem und subversiv, mit einer trockenen Sprache, die oftmals auf den ersten Blick kurzangebunden und lapidar, aber niemals ordinär oder gar obszön wirkt.

Den Wohlstandsbürger interessiert das nicht

Bei uns in Westeuropa wird dieses Buch wohl wie auch seine vorangegangenen keine grossen Wellen schlagen, dafür ist die Wortwahl zu direkt, die Thematik zu fern und die Eindringlichkeit der Prosa zu niederschmetternd. Eine desaströse Liebesgeschichte am Rande, eine kaputte und zerrüttete Männerfreundschaft die auf Pragmatismus aufbaut und eine melancholisch-triste Verlierer Story. Der Leser findet sich am Ende der Geschichte im Rumänien der Neuzeit mit verabscheuungswürdigem Menschenhandel und perverser Prostitution konfrontiert.

Wer will es uns also verübeln, dass wir dieses Buch ignorieren, wir, die gelernt haben, dass Einsamkeit und Isolation als eine Begleiterscheinung unseres exzessiven Individualismus zu akzeptieren sind. Medikamentensucht und Kokainmissbrauch inklusive. Hartnäckige Systemkritiker und Burnout-Opfer, die mit einem Ausbruch aus dem Hamsterrad liebäugeln, suchen meist in der Abgeschiedenheit der Provinz oder in fernen Ländern die unverfälschte Lebensfreude. Dass aber genau in der peripheren Abgeschiedenheit oftmals Armut, Krankheit und Perspektivlosigkeit grassieren, wird dem schwärmenden Romantiker hier gnadenlos vor Augen geführt.

Was uns degenerierten Wohlstandswestlern bleibt, ist der uralte Trost, dass es vielen anderen Bewohnern auf dieser Erde physisch wie psychisch noch viel erbärmlicher geht als uns. Doch diese Erkenntnis hat auch nur Ventilcharakter und wirkt nicht nachhaltig.

Ricardo Tristano

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand. Roman. Aus dem polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, Berlin 2011. 348 S., ca. 28 Fr., ISBN 978-3518422540