Es ist viel zu früh zu spät Jugend zwischen Wohlstand und Ausbruch

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Da ist vielleicht irgendwo eine gesetzliche Verpflichtung, die zur Gehorsamkeit zwingt, aber es gibt keine moralische Verbindlichkeit zur Gehorsamkeit.

Homertturm des SGV auf der Homert in Lüdenscheid.
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Homertturm des SGV auf der Homert in Lüdenscheid. Foto: Frank Vincentz (CC BY-SA 3.0 cropped)

7. Dezember 1995
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Wenn die Gegenwart zur Geschichte geworden ist, werden es die jungen Menschen gewesen sein, die das Gesetz gebrochen haben, für die langersehnte Freiheit, und man wird ihnen gedenken und sie würdigen, achten und ehren. Wir schreiben das Jahr 1995. Die Bevölkerungsdichte auf dem Planet Erde nimmt in beängstigendem Ausmass unaufhaltsam zu. Momentan leben sieben Milliarden Menschen auf dieser runden Kugel, und gewisse Skeptiker befürchten, dass es in dreissig Jahren schon doppelt so viele sein werden.

14 Milliarden. Die Ernährung von all diesen Lebewesen wird dann nicht mehr gewährleistet sein.

Schon heute sterben in Folge der ungerechten Verteilung der Lebensmittel jährlich Millionen von Menschen einen qualvollen Hungertod (In der USA und Westeuropa kämpft die Hälfte der Bevölkerung mit Übergewichtsproblemen).

Die Mutter Erde ist durch das unvernünftige Konsumverhalten aus dem Gleichgewicht geworfen worden. Sie kränkelt, darbt vor sich hin, liegt kurz vor dem ökologischen Kollaps.

Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Milliarden werden sterben müssen, damit einige wenige irgendwie noch was zu Essen finden. Die Natur wird sich in einen langen Winterschlaf zurückziehen und abwarten. Es gibt noch ein paar wenige Flecken auf dieser Erde(CH,D,USA..), wo es sich noch einigermassen leben lässt, was heissen will, dass es dort noch genügend Lebensmittel und Trinkwasser gibt und die Menschen können, dürfen oder müssen dort noch arbeiten, da die Wirtschaft noch halbwegs intakt zu sein scheint. Mensch gibt Geld aus, darf sich amüsieren.

In den ehemaligen Ostblockländer sieht da die Realität der Jugendlichen schon wieder ganz anders aus. In St. Petersburg zum Beispiel liegt die Selbstmordrate der jungen Menschen in unvergleichbarer Höhe. An der Armut und Notdurft der Bevölkerung hat sich seit der wirtschaftlichen Öffnung vor fünf Jahren nicht viel verändert, dafür sind jetzt aber im Zentrum der Stadt die Kaufrauschpaläste voll von diesen Glitter- und Glimmerprodukten.

Die Schaufenster, prächtig geschmückt und bestückt mit Plastikprodukten und Luxusartikeln aus dem Überflussrepertoire der westlichen Dekadenz, springen die leidgeprüften Russen auf eine aufdringliche, aggressive Art auf der Strasse an. Und jedem Sprössling wird so auf diese unerträgliche Art und Weise täglich vor Augen geführt, was für tolle Sachen es doch zu kaufen gäbe, wenn man das dafür notwendige Geld aufbringen könnte.

Das Leben wird zur Qual, weil gewisse Bedürfnisse, künstlich erweckt von skrupellosen Werbestrategen westlicher Konzerne, nicht befriedigt werden können. Keine Arbeit und keine Zukunft. Zehnjärige Kinder die ohne Hoffnung auf bessere Zeiten in den Strassen rumhängen, dem Alkohol oder anderen Drogen verfallen. Sie bringen sich um, weil da keine Perspektive ist. Sackgasse.

Und bei uns im heimeligen Schweizer Ländle haben wir all das, was sich Viele auf dieser Welt wünschen, aber nicht haben können. Da hier unsere Grundbedürfnisse abgedeckt sind und wir auch ansonsten materiell voll befriedigt sind, sehnen wir uns viel mehr nach menschlicher Wärme, Zuneigung, Bestätigung durch Andere und der eigenen Selbstverwirklichung.

Der einstmals hochgelobte bürgerliche Individualismus ist im zwanzigstan Jahrhundert verkommen zum billigen Ego-Trip-Fetischismus. Diesen Individualismustrend sorgte unter anderem dafür, dass bei uns ein Klima der einsamen, isolierten Seelen entstanden ist, unter denen Viele schon an dem befürchteten Symptom der geistigen Verarmung leiden. So müssen sich die zärtlichkeitsbedürftigen Schweizer und Schweizerinnen bedauernswerterweise noch mehr mit dem Konsum von unnötigen Produkten vertrösten.

Tragischerweise steckt das Bewusstsein, das es auf Dauer nicht so weitergehen kann, in jedem von uns tief verborgen, auch wenn das verständlicherweise nicht jeder wahrhaben möchte. Die älteren Generationen versuchen naturgemäss, ihren Lebensabend noch so angenehm wie nur möglich zu gestalten.

Sie haben ihr Leben gelebt - und uns einen Scherbenhaufen zurückgelassen. Mit dreissig sind sie gestorben und mit siebzig werden sie begraben. Die ewige Suche nach der Lust (Konsumpf), hat uns mitleidbedürftigen Kreaturen, die frisch auf diesen Planeten geworfen wurden, nichts gebracht, ausser Frust (Autod). Leider gibt es keine direkte, offene Aufforderung von Seiten der Gesellschaft, das Leben anders anzupacken, als dies die Mehrheit tut.

Im Gegenteil, mit Sprüchen wie "Aufschwung beginnt im Kopf", versucht die herrschende Elite die jungen Sprösslinge zu motivieren, einzusteigen und mitzudenken, für uns alle.

Und doch hat es sie mal gegeben, die Querdenker und Revoluzzer, die ihre unbequemen Forderungen und Ermahnungen auf die Strasse trugen. Sie waren unzufrieden und besorgt über unser aller Schicksal, und das unangenehme daran war, dass sie bereit waren zu kämpfen, auf der Strasse oder sonstwo, für ihre Träume und Ideale.

Aber eben, die Hippies hängen nun, Gott sei dank, nicht mehr auf der Strasse, sondern in ihren Einfamilienhäuschen, die Freaks der 80er Jahren haben sich glücklicherweise zu Tode gespritzt und die letzten paar übriggebliebenen Unzufriedenen haben sich frustriert und resigniert in ihren kleinen Mietwohnungen verkrochen. Sie alle, die uns schon immer ein nur noch schlechteres Gewissen einreden wollten, und uns so die lustige, unbekümmerte Stimmung versauten, wurden ersetzt, ja fast schon überrollt.

Früher waren da noch die Räumungspanzer und Wasserwerfer der Bullen notwendig, heute erledigen das unsere Brüder mit ihren fröhlichen Umzugswagen an der Streetparade.

Kreischend und johlend wie die Spiesser an der Fastnacht ziehen sie durch die Gassen von Zürich, wo einstmals noch wahrhaftige Männer und Frauen mit Steinen und Mollis in den Händen gegen die herrschende Ordnung ankämpften.

Heute beschmutzen die vergnügungssüchtigen Tekknofreaks mit ihren verstaubten Ecstasyköpfen das Pflaster von Zürich. Womit haben wir das verdient, diese Geisteshaltung des ewigen Lächelns und des fortgeschrittenen Glücks? Es geht mir gut, wirst Du vielleicht einwenden, was will ich mehr? Ich habe alles, was ich brauche und noch vieles mehr. Ist das alles? Bist Du kein Träumer, hast Du keine Wünsche?

Mein Problem ist, dass ich mir Sorgen mache, ja richtiggehend Angst habe vor einer Jugend, die nicht mehr weiss, was sie will. Keine Träume, kein Leben. Uns allen wurde von Anfang an eingetrichtert, dass das Glück des Lebens darin besteht, materielle Güter anzuschaffen um damit glücklich zu werden.

Ein Gameboy für die ersten Tränen, ein Mountainbike/Snowboard gegen den Frust in der Schule (oder als Belohnung), ein eigener Fernseher mit Video, damit wir uns von den Eltern widerstandslos zurechtweisen lassen und ihre Befehle respektvoll entgegennehmen, ein neues Auto für den Alltagsanschiss im Büro und ein bisschen Schokolade für unser gefühlkrankes Innenleben.

Der Papa, der Lehrer oder der Chef wird schon wissen, was am besten für mich ist. Ja keine Eigenverantwortung übernehmen, keine Entscheide treffen, nur Befehle entgegennehmen, wie uns das in der Schule und Lehre beigebracht wurde. Wir lauschen den Anweisungen und gehorchen brav. Die Jugend, der Spiegel unserer Gesellschaft. Wieso schaut keiner rein?

Warum will keiner die Warnzeichen des grossen Sturms erkennen und reagieren? Und wir fahren jeden Morgen, von Dübendorf nach Horgen, und machen uns keine Sorgen. Wir verhalten uns wie eine träge Herde von Kühen, die ein Gewitter herannahen sieht, und trotzdem weiter ihr Gras frisst, um es sich vor dem Elend noch möglichst gut ergehen zu lassen. Nach uns die Sintflut.

Es gehört doch auch immer zum Aufgabenbereich des heranwachsenden Nachwuchses, die bestehende Situation zu analysieren und nach alternativen und Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Es muss weitergehen, es wird weitergehen, aber wie? Es ist viel zu früh zu spät. Und mit den Jahren verändert man sich... und das was ist, kann zu dem werden, was man will.

Deshalb muss hier und jetzt und heute etwas getan werden, nicht morgen oder irgendwann. Direkte Aktionen sind gefragt. Die Zukunft liegt in unseren Händen. Tut was. Rettet die Welt, oder zumindest Euch selber.

U.v.d.H.