Ein Definitionsversuch Von wegen Radikal

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Das Adjektiv radikal wird heutzutage allgemein in negativem Zusammenhang verwendet. Die radikalen Meinungen verhindern im Entscheidungsprozess Kompromisslösungen. Menschen mit radikalen Ansichten neigen zu Gewalt und sind kaum konstruktiv; vielmehr sind sie zerstörerisch.

Paris 2007.
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Paris 2007. Foto: Mikael Marguerie (CC BY 2.0 cropped)

14. März 1995
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An Beweisen mangelt es nicht. Rechtsradikale Leute brennen Asylantenheime nieder, radikal religiöse Fundamentalisten legen Bomben, linksradikale Terroristen morden.

Es ist also kaum verwunderlich, dass der Radikalismus sofort mit schlechtem, bösem und gefährlichen assoziiert wird. Diese Entwicklung ist allerdings nur möglich, weil das Wort seiner eigentlichen Bedeutung entfremdet wurde. Radikalismus ist eine philosophische und politische Vorgehensweise bei Betrachtung von Problemen und deren Lösungsversuchen. Das Wort radikal stammt vom lateinischen radix ab, was Wurzel bedeutet.

Auf den Radikalismus bezogen heisst das, dass versucht wird, Lösungen von Fragestellungen über die Beseitigung oder Veränderung der Ursachen anzustreben. Die Wurzel des Problems soll angegriffen werden.

Das Wort radikal bezeichnet eigentlich nur die Aktionsebenen der Lösungsversuche. Es soll der Ursache auf den Grund gegangen werden und nicht bloss eine Symptombekämpfung praktiziert werden, die Kosmetik ist und die Problematik einer Sache nur vorübergehend abschwächt und aufschiebt, so dass sie früher oder später wieder auftaucht.

Eines der wichtigsten, grössten und interessantesten Beispiele für Versuche radikaler Problemlösungen ist die sozialistisch-kommunistische, welche vor allem durch Karl Marx und Friedrich Engels zu einer mächtigen Bewegung wurde. Das Problem, das gelöst werden muss(te), ist die soziale Ungleichheit der einzelnen in der Gesellschaft. Natürlich ist es Ansichtssache, ob dieser Umstand wirklich ein Problem ist oder nicht. Jedenfalls lag es Marx (und vielen anderen) daran, diese Sache anzugehen.

Er suchte die Wurzeln der Ungerechtigkeit und legte die Ergebnisse seiner Arbeit dar, die Aufgrund der Forschung nach den Ursachen auch Lösungsansätze enthielt. Es handelte sich im Gegensatz zu der gängigen politischen Arbeit um ein wissenschaftliches Vorgehen.

Eine der Ursachen, welche eigentlich nicht aus dem Kontext der Gesamtheit herausgeschält werden dürfte, sah Marx im Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die radikale Schlussfolgerung, die er daraus zog, war, das Eigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen.

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Bild: Demo in Zürich

Eine andere ebenfalls radikale Möglichkeit wäre gewesen, die Form dieses Privateigentums zu ändern. Sicher ist, dass Marx die Problematik der sozialen Ungleichheit radikal, das heisst auf eine wissenschaftliche Art angegangen ist. Wie zureichend bekannt ist, haben die bisherigen Versuche, die soziale Ungleichheit mit der marxistischen Methode anzugehen, versagt.

Die beliebteste Interpretation davon ist, dass die gesamte kommunistische Theorie unrichtig ist, eine andere, dass sie falsch angewendet wurde.

Es ist klar, dass sich Marx in gewissen Dingen getäuscht hat. Das ist besonders da einfach zu beweisen, wo er versucht hat, die künftige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft aufzuzeigen. Es ist für uns heute natürlich sehr einfach, diese Fehler zu sehen, doch ist es reine Dummheit, eine ganze Theorie aufgrund weniger Irrtümer als unbrauchbar zu klassifizieren.

Ein positiver und konstruktiver Geist wäre bestrebt, die Makel auszumerzen und die Theorie weiterzuentwickeln anstatt sie grundsätzlich zu verwerfen oder dogmatisch an ihr zu hängen. Es ist allerdings kaum so, dass der Kommunismus an diesen kleinen Ungereimtheiten gescheitert ist. Die radikale marxistische Lösung der Gesellschaftsprobleme basiert fast ausschliesslich auf soziologischen und ökonomischen Erkenntnissen. Das ist nicht ein Fehler aber unzulänglich.

Es wird schliesslich immer wieder behauptet, der Mensch sei aufgrund seiner Natur für den Sozialismus nicht fähig. Ob das stimmt, ist nicht bewiesen, sondern bloss eine Interpretation der Geschichte. Es ist aber richtig, dass die marxistische Theorie die Psychologie des Menschen kaum berücksichtigt, obwohl dieser Bereich sehr wichtig ist, denn Marx ging es letztendlich um den Menschen.

Genau hier und möglicherweise in anderen Bereichen müsste angesetzt werden, um die unzulängliche Theorie zu vervollständigen. Marx in den Kinderschuhen, so dass er kaum Kenntnisse davon haben konnte. Heute ist es anders, und es gibt Menschen, die diese Lücke durch ihre Arbeit auszufüllen bestrebt sind. Die Beachtung dieser Werke ist allerdings gering, auch in sogenannt revolutionären Kreisen. Dogmen und geistige Unbeweglichkeit verhindern eine konstruktive Auseinandersetzung auch in diesem Punkt.

Das Problem der sozialen Ungleichheit, ist keine Kleinigkeit, sondern eine höchst komplexe Fragestellung, deren Antwort zu eruieren bis heute noch nicht möglich war.

Es wäre erstaunlich gewesen, hätte ein einzelner Mensch wie Marx das alleine geschafft. Die Herausforderung dieser Frage ist, in ebenso radikaler und wissenschaftlicher Weise wie Marx und Engels die Problematik anzugehen und auf vernachlässigten Gebieten wie zum Beispiel der Psychologie weiterzuführen bis zur Vervollständigung. Das Beispiel des Sozialismus zeigt, dass auch radikale Lösungen aufgrund von falschen oder unvollständigen Analysen oder Ursachen versagen können.

Die erwähnte Fragestellung der Lösung der Sozialen Ungleichheit ist natürlich eine fundamentale, umfassende und damit auch sehr komplizierte Sache. Auch alltäglichere Dinge können radikal angegangen werden. Nur werden, wie bereits erwähnt, grundsätzliche Lösungen nicht gerne gesehen, als extrem und unrealistisch abgestempelt.

Das hat einen ganz einfachen und beschämenden Grund. Der Mensch der heutigen Gesellschaft ist verantwortungsscheu, konservativ, ängstlich gegenüber neuem, denkt kurzsichtig, ist egoistisch und verantwortungslos.

Radikale Lösungen verlangen aber Mut und Freude an Neuem, langfristiges Denken, soziales und ökologisches Bewusstsein, das heisst Selbstverantwortung, Flexibilität und Interesse an einer konstruktiven Lösung. Die Tatsache, dass der Durchschnittsmensch nicht so ist, lässt sich durch seine allgemeine Interesselosigkeit und Verblendung in der Politik sowie in seiner Immunität gegenüber sachlichen Beweisen und Argumentationen aufzeigen.

Er lässt sich noch so gerne durch das verführen, was er hören will und ist froh seine Verantwortung abgeben zu können, beziehungsweise fertige Meinungen von anderen zu übernehmen. Dieser Charakter, wie auch immer er zustande kam, ist der Grund für die Ablehnung des Radikalismus. Dieser Umstand erklärt die Tatsache tausender Uralter und trotzdem ungelöster Probleme und die schreckliche Langsamkeit bei der Evolution der Volksmeinung über irgendwelche Dinge.

Gewisse Fragestellungen werden deshalb sogar immer wieder auf die selbe Art und Weise zu lösen versucht, obwohl der begangene Weg sich bereits als Irrtum erwies. Dieses absolut unproduktive Vorgehen ergibt sich zum Beispiel aus dem Handlungszwang der PolitikerInnen und der immer vorhandenen Angst vor radikalen Möglichkeiten. Nehmen wir als Beispiel, welches Besagtes illustrieren soll, die sogenannte Drogenproblematik. Seit bald dreissig Jahren wird mit eiserner Repression die Drogensucht der Gesellschaft bekämpft.

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Bild: Kasernenareal in Zürich

Der Kampf bezieht sich allerdings nur auf die juristisch verbotenen Suchtmittel. Der Umstand, dass es legale und illegale Drogen gibt, ist eines der Anzeichen für das irrationale Zwiedenken, welches sachliches Vorgehen verunmöglicht.

In Zürich gab und gibt es seit Jahren eine offene Drogenszene, die immer wieder mit polizeilichen Mitteln hätte aufgelöst werden sollen.

Diese Versuche, die nichts anderes waren als Hetzjagden auf randständige Sündenböcke, waren von keinerlei ursachenberücksichtigenden Massnahmen begleitet. Diese Handlungsweise musste vom radikalen Standpunkt aus gesehen scheitern, und so war es denn auch.

Es gab seit jeher Stimmen, die gegen die Kriminalisierung des Drogenkonsums eintraten, weil sie darin die Ursache der Verelendung und der sozialen Ausgrenzung der Süchtigen sahen. Das wäre die Lösung der einen Seite des Problems.

Die Problematik eines von kriminellen Organisationen kontrollierten und geförderten Marktes illegaler Suchtmittel ist eine andere Seite, die am besten durch die Entziehung der Grundlagen, dieses Treibens, das heisst diese Zerstörung des illegalen Marktes durch die Legalisierung des Handels, möglicherweise staatlich kontrolliert. In diese Richtung muss der Weg gehen, die Wurzeln, die Grundlagen, die Voraussetzungen, die Ursachen müssen angepackt werden.

Es gibt Beweise genug, dass die polizeiliche Verfolgung des Rauschgifthandels keine anderen Auswirkungen hat, als das Füllen von Gefängnissen und die Verteuerung der Stoffe auf dem verbotenen Markt. Die Suchtproblematik an sich, aus der alle Schwierigkeiten entstehen, wagt kaum ein Politiker anzugehen. zu betroffen wird der Einzelne, zu offensichtlich werden die Widersprüche seiner selbst und des bisherigen Agierens.

Die direkte Konfrontation mit dieser Frage unter Einbezug seiner selbst macht Angst und wird verdrängt, entgeht dabei allerdings einem Lösungsversuch. Einige Revolutionäre sagen die gesellschaftlichen Verhältnisse und die sich daraus ableitenden familiären und persönlichen Schwierigkeiten seien die Ursachen; das Konkurrenzdenken, der Leistungsdruck sind die Wurzeln des Suchtverhaltens.

Ob die Menschheit wieder einmal die Kraft, den Mut und den Willen aufbringen wird, um den Versuch zu wagen diese Ursachen über eine andere Gesellschaftsform anzugreifen?

Radikale Problemlösungen sind der einzige Weg mit bewältigender und nicht bloss aufschiebender Wirkung. Das schliesst nicht Fehler, Mühe und möglicherweise langsames Entwickeln der richtigen Lösungen aus. Wie bereits erwähnt kann sich auch der Radikalismus auf einem unfertigen oder falschen Weg befinden.

ds